Frau Steßl, wie geht es Ihnen im Ruhestand?
Ich vermisse die Arbeit schon etwas. Ich habe immer gern gearbeitet, es war ein gutes Arbeitsverhältnis. Ich vermisse auch die Zusammenarbeit mit den Dorfhelferinnen. Ein Mal im Monat hatten wir immer ein Dienstgespräch, seit Corona ging allerdings fast alles übers Telefon. Auch abends bei mir zuhause, wenn die Dorfhelferinnen von ihren Einsätzen bei den Familien wieder zuhause waren, haben sie oft noch angerufen.
An die Stille des Telefons musste ich mich erst gewöhnen. Aber natürlich genieße ich es auch, dass ich weniger auf die Uhr schauen muss und mir die Zeit für andere Dinge, zum Beispiel meinen Garten, nicht mehr stehlen muss. Jetzt komme ich mit dem Unkraut jäten hinterher. Ich habe jetzt mehr Zeit für meine Familie und das kirchliche Leben in Eschbach, das mir sehr am Herzen liegt.
Konnten Sie Ihren Abschied von der Caritas-Sozialstation wegen Corona überhaupt feiern?
Eine Verabschiedung war nur im kleinsten Kreis möglich und die letzte Dienstbesprechung mit den Dorfhelferinnen war im Freien bei mir im Garten, mehr war leider nicht möglich. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle nochmals bei allen herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit und das gut Miteinander bedanken.
Es war für mich eine erfüllende Zeit, in der ich mir immer wieder neue Kompetenzen erwerben musste, beispielsweise um neue Vorgaben und Gesetze wie 1995 die Pflegeversicherung umzusetzen oder um den Anforderungen der zunehmenden elektronischen Datenverarbeitung zu entsprechen.
Lassen Sie uns auf Ihre Zeit als Einsatzleiterin für Dorfhelferinnen zurückblicken, wer hat überhaupt Anspruch auf eine Dorfhelferin?
Wenn der haushaltsführende Teil der Familie, meistens ist es die Mutter, sich in einer akuten Notlage befindet und Kinder in der Familie leben, besteht ein Rechtsanspruch. Die Kinder müssen je nach Krankenkasse, jünger als 12 oder 14 Jahre alt sein. Notlagen sind zum Beispiel Erkrankungen, Krankenhausaufenthalte, Unfälle oder auch Risikoschwangerschaften. Seit rund zwei Jahren können auch ältere Menschen, die noch keine Pflegestufe haben, den Dienst von Dorfhelferinnen beantragen.
Der normale Ablauf ist, dass die Familien oder die älteren Menschen zunächst mir ihrer Krankenkasse klären, in welchem Rahmen diese die Kosten für eine Dorfhelferin übernimmt, sie können sich aber auch vorher von der Einsatzleitung über die Vorgehensweise beraten lassen.
Die Kunst der Einsatzleitung besteht darin, soweit als möglich den Wünschen der Familie entgegen zu kommen. Das Problem ist, dass es oft ganz schnell gehen muss und die Finanzierung nicht immer sofort geklärt werden kann. Ich habe deshalb als Einsatzleiterin auch immer wieder Telefongespräche mit Krankenkassen geführt.
Waren es immer einfache Gespräche mit den Krankenkassen?
Es war manchmal schon ein Kampf. Ich musste mich schon ab und zu zusammen reißen und einzelne Sachbearbeiter daran erinnern, dass sie einen Ermessungsspielraum haben. Es liegt immer viel an den jeweiligen Sachbearbeitern, wie verständnisvoll sie die Situation der Familien erkennen und dann die entsprechende Hilfe zukommen lassen.
Schwieriger ist die Situation durch die neuen Datenschutzbestimmungen geworden. Einsatzleitungen können mit den Krankenkassen nur reden, wenn die Familien sie von der Schweigepflicht entbinden. Grundsätzlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass es große Unterschiede bei den Krankenkassen gibt, auch was die Dauer der Finanzierung betrifft.
Einige bezahlen zum Beispiel nur für 28 Tage eine Dorfhelferin, andere bis zu einem Jahr. Das heißt, es gab immer wieder Notlagen, die wir dann unbürokratisch überbrückt haben, indem wir Familien aus einem Spendentopf des Dorfhelferinnenwerks Sölden unterstützten.
Können Sie Beispiele für solche Notlagen nennen?
Ganz tragisch wird es, wenn eine Mutter stirbt, dann erlischt der Anspruch bei der Krankenkasse und die Dorfhelferin müsste abgezogen werden. Das wäre fatal, denn gerade in dieser Situation muss die Dorfhelferin im Einsatz bleiben, damit die Familie Zeit hat, sich neu zu organisieren. Letztes Jahr hatten wir eine Frau mit Drillingen. Da ihre Krankenkasse nur für 28 Tage eine Dorfhelferin bezahlte, haben wir hier ebenfalls auf den Spendentopf zurückgegriffen.
Hat sich die Arbeit der Dorfhelferinnen im Vergleich zu früher stark verändert?
Ja. Die Familienstrukturen sind heute ganz anders. Oft sind beide Elterneile berufstätig und die Großeltern nicht vor Ort. 1956 hat Elisabeth Schwander in Sölden das Dorfhelferinnenwerk gegründet, um Nöte von Bäuerinnen aufzufangen. Dorfhelferinnen hatten anfangs fast nur Einsätze in der Landwirtschaft. Heute machen diese nur noch etwa drei Prozent aus.
Zugenommen haben hingegen Einsätze, die das Jugendamt in Familien veranlasst, die mit der alltäglichen Haushaltsführung und Versorgung der Kinder überfordert sind. Man kann heute nicht mehr voraussetzen, dass jede Mutter einen Haushalt führen kann, früher war das anders. So selbstverständliche Sachen wie zum Beispiel regelmäßige Mahlzeiten zubereiten, finden einfach nicht mehr statt. Es fehlt oft an Alltagsstruktur.
Was glauben Sie, ist hierfür der Grund?
Ich denke, es liegt an der Erziehung. Viele Kinder werden nicht mehr dazu angehalten, im Haushalt zu helfen, dadurch lernen sie es nicht. Ich finde deshalb, dass in jeder Schulform Haushaltstechniken auf dem Lehrplan stehen sollten. Hygiene im Haushalt, gesundes Essen, Grundkenntnisse über Lebensmittel und verantwortungsvoller Umgang mit ihnen, nicht alles muss sofort weggeworfen werden, wenn es mal nicht sofort gegessen wird oder einen Tag alt ist, sollten vermittelt werden.
Das würde unserer Gesellschaft gut tun, die Kinder lernen zu wenige praktische Dinge. Was nützt es, wenn jemand fachlich top ist, aber nicht weiß wie man sich was Vernünftiges kocht. Hauswirtschaftliches zu lernen sollte so selbstverständlich sein wie Mathe oder Sprachen zu lernen.
Wie wird man eigentlich Dorfhelferin?
Das Dorfhelferinnenwerk Sölden e.V. bietet keine Ausbildung mehr an, hat aber einen Kooperationsvertrag mit der Familienpflegeschule Freiburg, die Familienpflegerinnen ausbildet. Die Berufsbezeichnung Dorfhelferin steht auch für Familienpflegerin.
Seit diesem Jahr bietet die Familienpflegeschule eine duale Ausbildung an, Praxis und Schulwochen wechseln sich ab. Zwischenzeitlich arbeiten beim Dorfhelferinnenwerk einige talentierte, aufgeschlossene und patente junge Frauen als Dorfhelferin. Frauen können auch nach der Familienphase und mit abgeschlossener Ausbildung, egal in welchem Bereich, über zwei Jahre eine berufsbegleitende Ausbildung zur Dorfhelferin machen.
Welche persönlichen Eigenschaften brauchen Dorfhelferinnen Ihrer Erfahrung nach?
Sie kommen in intimste Bereiche der Familien, das heißt man braucht Fingerspitzengefühl und gesunden Menschenverstand, man muss Notlagen einschätzen können und sehen, wo schnell geholfen werden muss.
Dorfhelferinnen müssen belastbar, anpassungsfähig und flexibel sein. Sie sind Hauswirtschafterinnen, Lehrerinnen und Seelsorgerinnen. Man muss neben fachlichen Kompetenzen, das Herz auf dem rechten Fleck haben. Bei vielen spielen auch religiöse Überzeugungen eine Rolle. Für mich ist Dorfhelferin kein Job, sondern eine Berufung.
Ist es ein Beruf mit Zukunft?
Ganz bestimmt! Die Dorfhelferinnen der Sozialstation St. Verena Waldshut-Tiengen waren zuletzt bei 70 Familien jährlich von 28 Tagen bis zu einem Jahr im Einsatz. Es sind eher mehr geworden. Ich gehe davon aus, dass zukünftig mehr Dorfhelferinnen gebraucht werden als heute.
Allein an der Sozialstation Waldshut gehen die nächsten zwei bis drei Jahre einige Dorfhelferinnen in den Ruhestand. Das heißt, es werden dringend neue gesucht. Es wäre schön, wenn sich zukünftig viele junge Frauen für den Beruf der Familienpflege interessieren und eine Ausbildung beginnen.
Haben Sie für Ihren Ruhestand besondere Pläne?
Nein. Ich hoffe, dass ich gesund bleibe und freue mich darauf, viel Zeit mit meiner Familie zu verbringen und mit meinem Mann zu verreisen. Ich könnte mir auch gut vorstellen, ehrenamtlich ältere Menschen im Bereich Pflegeversicherung zu beraten, weil ich mir hier in der Arbeit großes Wissen angeeignet habe.