„Bürgermeister des Äußeren“ – so wurde einst Paul Müller humorvoll genannt, seines Zeichens Bote der jungen Stadt Wehr und ihres Bürgermeisters Eugen Schmidle. Eigentlich war Müller gelernter Weber. Wegen einer schweren Verwundung im Zweiten Weltkrieg konnte er aber seinen Beruf in der MBB nicht mehr ausüben und erhielt stattdessen eine Anstellung bei der Stadtverwaltung. Als Bote kam er viel herum, besonders in Wehrs Außenbereichen. Daher sein Übername.

Doch der hatte auch noch einen weiteren Grund. Müller war leidenschaftlicher Fotograf. „Mein Vater“, so erzählt sein Sohn Bruno, „hat 1954 in Basel für den damals unvorstellbaren Betrag von 420 Franken eine Spiegelreflexkamera erstanden. Wenn wieder einmal ein Gebiet erschlossen, eine neue Straße oder Siedlung gebaut wurde, war er mit seiner Kamera zur Stelle.“

So auch 1959, als im Mühlegraben oberhalb der Trefzger-Säge und der Anlage des Fischers Franz Maier Eigenartiges geschah. Dort trieb ein Bautrupp einen Stollen in den Berg. Es waren die Vorboten einer Großbaustelle. Der geologische Untergrund des geplanten Kavernenkraftwerks Wehr musste sorgfältig untersucht werden. Das gigantische Projekt, das am 15. November 1976 mit der Inbetriebnahme der Hornbergstufe abgeschlossen wurde und über eine halbe Milliarde D-Mark verschlungen hatte, machte umfangreiche Vorbereitungen erforderlich.

Zunächst änderte sich nicht viel. Die Wehra blieb ein Forellenparadies und das Reich von Fischer Franz Maier. Dort oben hatte in den Hungerjahren nach dem Krieg der sechsjährige Bruno Müller gemeinsam mit seinen stets hungrigen Freunden Sepp Ozwirk und Bruno Wenk so manche Forelle aus Franz Maiers Reusen stibitzt und sie auf der Neumatt unterhalb vom „Bayerhus“ heimlich gebraten. „Wir wussten, wo der Franz die Reusen stehen hatte und wann er sie leerte“, erinnert sich schmunzelnd der als Original geltende Müller.

Doch dann war plötzlich am Eingang der Wehraschlucht die Hölle los. Ende der 1960er Jahre ging es zur Sache. Bis zu 600 Arbeiter schufteten mit gewaltigem Gerät an der neuen Straßenführung mit zwei Brücken und einem Tunnel, an der Kaverne für die riesigen Maschinensätze, dem Stollen zum Hornbergbecken, der Wehrasperre und den anderen Teilen dieser imposanten Großbaustelle.
Beeindruckende Dimensionen
Fotos aus dem Nachlass des 2017 gestorbenen Lothar Schmidt dokumentieren die noch heute beeindruckenden Erdarbeiten. Schmidt war 1965 in den Dienst der Schluchseewerk AG getreten und seit 1971 bis zu seiner Pensionierung für die Stromleitungen und die Elektrik der gesamten Anlage zuständig. Wie seine noch lebenden Kollegen vom alten Team des Kavernenkraftwerks würde er heute hellwach, aber in sicherer Distanz, die Sanierung des Stausees mitverfolgen.

Die Großbaustelle brachte frischen Wind in die beschauliche Kleinstadt. „Unterhalb der Staumauer“, so der Zeitzeuge Günter Kramer, „war ein riesiges Barackenlager entstanden. Hier waren die vorwiegend aus dem Alpenraum stammenden Fachkräfte untergebracht. In der großen Kantine war der Teufel los“. Kein Wunder, denn „es wurde im zwölfstündigen Schichtbetrieb Tag und Nacht durchgearbeitet“, erinnert sich Norbert Augstein. Er hatte nach seiner MBB-Werkselektrikerlehre fast ein Jahr lang im Stollen für guten Lohn geschuftet.
Günter Kramer hatte mit Werner Meister, dem Bauleiter von Hochtief, sowie dem Kantinenwirt Stefan Mikuszka Freundschaft geschlossen. In Erinnerung ist ihm die „kontrollierte Abfackelung der Trefzger-Säge im Rahmen einer Feuerwehrübung“ geblieben. Der Ernstfall trat ein, als es „im Stollen zu einem Wassereinbruch kam. Wir haben einen Tag lang gepumpt, damit die Elektroanlage keinen Schaden nahm.“
Die Kantine im Barackenlager war zeitweise ein Zentrum der Wehrer Fasnacht. Dort organisierte Kramer, damals Zunftmeister der „Bären“, zwei Bälle seiner Zunft. Dass es dabei zu Begegnungen und Freundschaften kam, ist nicht verwunderlich. „Dieter Rempe, Walter Pomorin, Bernd Hein und Johann Hoyas, um nur einige zu nennen, blieben aus gutem Grund in Wehr“, berichtet Kramer.
Viele Pioniere dieser epochalen Großbaustelle und des seit 1976 laufenden Kraftwerks leben nicht mehr. Sie würden mit Stolz den Fortgang der Sanierung des Wehra-Stausees mitverfolgen. Ihr Mega-Projekt sorgt seit fast einem halben Jahrhundert nicht nur für einen beständigen Geldfluss in die Kassen der Stadt, sondern sichert verlässlich das Stromnetz Deutschlands und seiner Nachbarn. Eine Aufgabe, wichtiger denn je in Zeiten der Energiewende.