Eine halbe Hundertschaft Psychiater und Neurologen hat sich am 25. September 1894 im Arkadenhof der Wiener Universität versammelt, um sich für ein Gruppenbild ablichten zu lassen. Sie gehören der ältesten deutschsprachigen Wissenschaftsvereinigung an, die hier ihre 66. Tagung abhält. Den Herren steht ihre Bedeutung ins bärtige Gesicht geschrieben.

Psychiater und Neurologen lassen sich am 25. September 1894 im Arkadenhof der Universität Wien bei der 66. Versammlung deutscher ...
Psychiater und Neurologen lassen sich am 25. September 1894 im Arkadenhof der Universität Wien bei der 66. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte gemeinsam ablichten. In der zweiten Reihe als dritter von rechts rot markiert Sigmund Freud und rechts neben ihm als einzige Frau Olga von Leonowa. | Bild: Oskar Diethelm Library, DeWitt Wallace Institute of Psychiatry: History, Policy, & the Arts, Weill Cornell Medical College

Sigmund Freud und Olga von Leonowa – eine Wissenschaftlerin im Schatten der Männer

Die einzige Frau in dem patriarchalen Wimmelbild kann leicht übersehen werden. Sie steht in der zweiten Reihe, trägt ein helles Kostüm mit Puffärmeln und ist einen Kopf kleiner als die meisten ihrer männlichen Kollegen. Direkt neben ihr steht Sigmund Freud, dessen glanzvolle Karriere damals gerade erst beginnt. Die Frau heißt Olga von Leonowa. 20 Jahre nach der Tagung in Wien wird sie zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Laufenburg als vermeintliche russische Spionin verhaftet werden und verschwindet später spurlos.

Spuren der Wissenschaftlerin: Russenvilla, Fachartikel und Akten

Von Olga von Leonowa ist nicht viel mehr geblieben als die Bezeichnung „Russenvilla“ für ihren ehemaligen Laufenburger Wohnsitz, ein Dutzend an der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert erschienener fachmedizinischer Veröffentlichungen und ein zwei Zentimeter dicker Aktenstapel des Bezirksamts Säckingen. Er wird heute im Staatsarchiv Freiburg aufbewahrt, umfasst Dokumente aus den Jahren 1914 bis 1928 und ist „Die Behandlung von Angehörigen feindlicher Staaten hier die Russin Dr. Olga von Leonowa in Kleinlaufenburg“ betitelt.

Ausbildung und Forschung: Olga von Leonowa im Medizinstudium

In den Akten finden sich so gut wie alle spärlichen Angaben zu Leonowas Leben, die wir kennen. Sie gibt dort zu Protokoll, am 21. Januar 1851 in Moskau geboren worden zu sein, möglich ist aber auch der 21. Februar 1859 als Geburtsdatum, so wie es im Laufenburger Melderegister eingetragen ist. Im Alter von 28 Jahren jedenfalls nimmt Leonowa ein Medizinstudium in Moskau auf, das sie in Petersburg, Wien und Leipzig fortsetzt. Speziell befasst sie sich mit der Anatomie des menschlichen Hirns. An den Universitäten Heidelberg und München ist Leonowa als Assistentin beschäftigt, und zuletzt 1909 in Freiburg an der psychiatrischen Klinik.

Die sogenannte „Russenvilla“ in einer historischen Aufnahme. 1910 bis 1916 lebte hier Olga von Leonowa. Ganz vorn ist die Landstraße zu ...
Die sogenannte „Russenvilla“ in einer historischen Aufnahme. 1910 bis 1916 lebte hier Olga von Leonowa. Ganz vorn ist die Landstraße zu sehen, zu der parallel die Bahnlinie verläuft. Im Hintergrund ist der Schlossberg im Schweizer Laufenburg zu erkennen, davor der Rhein. „Unser Haus“, hat Vorbesitzer Heinrich Faller auf die Vorderseite der 1907 abgestempelten Postkarte geschrieben. | Bild: Archiv Egon Gerteis

Frauen in der Wissenschaft: Frühe Pionierin der Neurologie

Im kaiserlichen Russland ist Frauen ein Hochschulstudium früher möglich als in vielen anderen europäischen Staaten. 1878 werden in Sankt Petersburg erste Hochschulkurse für Frauen eingeführt. Im Deutschen Reich können sie sich erstmals 1900 in Baden für ein reguläres Studium einschreiben. Zu dieser Zeit hat Leonowa bereits Beiträge zur Entwicklung des Zentralnervensystems veröffentlicht.

Unbekannter Doktortitel und Forschung in Zürich

Wo die russische Wissenschaftlerin ihren Doktortitel erwirbt, ist nicht bekannt. Ab 1892 forscht sie im Zürcher „Labörli“ des ebenfalls russischstämmigen Neurologen Constantin von Monakow. Der politisch liberale Monakow unterstützt das Fortkommen seiner Landsmännin sehr.

Aufstieg und Rückschläge: Eine Karriere voller Hindernisse

„Olga von Leonowa war – vermutlich mit Hilfe ihres Förderers – die Gelegenheit zu einem großartigen Start geboten worden“, schreibt der Münchner Neurologe und Psychiater Professor Hans Förstl. Er veröffentlichte 2020 in einer Fachzeitschrift einen Beitrag über die russische Wissenschaftlerin. Leonowas Referat 1894 in Wien nennt Förstl „ihren ersten großen Auftritt“ in der Wissenschaftsgemeinde.

Doch die Karriere der Russin gerät ins Stocken. Ein Grund dafür mag Mobbing sein. Förstl zitiert einen Brief des Heidelberger Universitätsprofessors Franz Nissl, in dem dieser 1904 Leonowa seinem Münchner Kollegen Emil Kraepelin von Leonowa vor deren Wechseln an diese Universität folgendermaßen ankündigt: „Eine Art Zwischenstufe zwischen Mann und Weib. Ich glaube, dass sie guten Willen hat. Aber maximal eng begrenzter geistiger Horizont. Ausser der Rinde der fissura calcarina scheint sie überhaupt Nichts in der Welt zu interessieren…“

Laufenburg in einer Aufnahme von 1864. Das pittorekse Städtchen an der Grenze zur Schweiz zog reiche Ausländer an. 1894 erwarb das ...
Laufenburg in einer Aufnahme von 1864. Das pittorekse Städtchen an der Grenze zur Schweiz zog reiche Ausländer an. 1894 erwarb das amerikanische Ehepaar Arthur und Mary Codman die auf diesem Bild noch im Bau befindliche und hinter dem großen Baum an der Hangkante erkennbare Villa La Roche und baute sie zum späteren „Schlössle“ um. | Bild: G. Th. Hase/Stadtarchiv Laufenburg

Förstl hält es aber auch für möglich, dass Leonowa an sich selbst scheitert. Sie habe ihre wissenschaftlichen Methoden und ihre wissenschaftliche Fragestellung nicht erweitert, schreibt Förstl. In der Begegnung mit ihren Wissenschaftskollegen scheine sie misstrauisch über ihr geistiges Eigentum gewacht und gleichzeitig ein „eindrucksvolles Selbstbewusstsein und keine Scheu vor öffentlicher Auseinandersetzung“ gehabt zu haben.

Rückzug nach Laufenburg: Die Russenvilla am Rhein

Leonowa kehrt Universität und Klinik den Rücken und privatisiert. In Kleinlaufenburg, wie das badische Laufenburg damals heißt, erwirbt sie von Heinrich Faller, dem Besitzer einer großen Dampfsäge, eine östlich der Kleinstadt direkt über dem Rhein gelegene Villa, auf die sie durch eine Annonce aufmerksam geworden war. Am 16. Juni 1910 meldet sie sich in Kleinlaufenburg an.

„Kurzgeschnittee Haare, wenig sorgfältige alte Kleidung machten sie zu einer eigentümlichen Erscheinung“

Ein jährliches Einkommen von 3000 Goldmark gewährt ihr eine gewisse Unabhängigkeit. Ihr Lebensstil ist unkonventionell. „Sie lebte völlig zurückgezogen von der Welt, hatte mit niemand im Ort Verkehr und führte ein absonderliches Dasein. Auch ihr reduziertes Aussehen, kurzgeschnittene Haare, wenig sorgfältige alte Kleidung etc. machten sie zu einer eigentümlichen Erscheinung“, heißt es am 25. November 1914 in einem Vermerk des Bezirksamts Säckingen. Im Januar 1913 erleidet Leonowa einen Hirnschlag, den sie in einem Heidelberger Sanatorium auskuriert, an dessen Folgen sie aber noch danach leidet.

Ein Roman über Olga von Leonowa

Der Roman „Madame Codman und die traurige Gräfin“ erschien im Juli 2023, umfasst 278 Seiten und kostet 20 Euro.
Der Roman „Madame Codman und die traurige Gräfin“ erschien im Juli 2023, umfasst 278 Seiten und kostet 20 Euro. | Bild: Gmeiner Verlag

Spionageverdacht im Ersten Weltkrieg: Verhaftung in Laufenburg

Mit Ausbruch der Ersten Weltkriegs und der Kriegserklärung des Deutschen an das Russische Kaiserreich am 1. August 1914 gerät die eigentümliche Russin ins Visier der Behörden. Diese vermuten, dass sie die direkt an ihrer Villa verlaufende Bahnlinie ausspionieren und einen Anschlag auf einen nahen Eisenbahntunnel vorbereiten könnte.

Ein wichtiges Indiz liefert der Kleinlaufenburger Postverwalter Otto Schätzle. Er meldet, „daß die Leonowa mit einer Gesellschaft in Zürich in Verbindung gestanden habe“. In den Akten ist als Beweis ein Zettel abgeheftet, auf dem mit Bleistift die verräterischen Worte „société anonyme Zürich“ geschrieben stehen – das französische Wort für Aktiengesellschaft!

Gefängnis, Meldeauflagen und Isolation

„Russin Olga Leonowa heute festnehmen und in Amtsgefängnis. Haussuchung nach Vorschrift vornehmen“, heißt es am 4. August 1914 im Telegramm des Bezirksamts Säckingen an die Gendarmeriestation Kleinlaufenburg. Bis Ende November 1914 bleibt sie im Amtsgefängnis Säckingen arrestiert, zunächst in Untersuchungs-, nachdem sich die Vorwürfe dann als haltlos erwiesen hatten ab September dann in sogenannter Sicherheits- und Schutzhaft.

Nach ihrer Entlassung muss von Leonowa sich täglich beim Kleinlaufenburger Polizeiposten melden. Dieser Auflage kommt sie aus gesundheitlichen Gründen desöfteren nicht nach. Später beklagt sie, dass sie auf dem Weg zum Posten von Kindern und Fabrikarbeitern belästigt zu werden. Im Februar 1915 ordnet das Bezirksamt an, die Meldezeit außerhalb der Schul- und Arbeitszeiten zu legen.

Diese Luftaufnahme entstand vermutlich in den 1930er Jahren und zeigt die Seidenwebereien Eggemann, Lange & Cie (links) sowie Naef ...
Diese Luftaufnahme entstand vermutlich in den 1930er Jahren und zeigt die Seidenwebereien Eggemann, Lange & Cie (links) sowie Naef (Mitte) und schließlich die Eisendreherei Kurt Schmiede. Unmittelbar jenseits des linken Bildrands war an der horizontal durch das Bild verlaufenden Straße Leonowas Villa gelegen. Die alleinstehende Frau klagte über Belästigungen durch Fabrikarbeiter. | Bild: TH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / Fotograf: Mittelholzer, Walter / LBS_MH03-0629 / Public Domain Mar

Leonowa lebt jetzt völlig zurückgezogen und verkehrt mit so gut wie niemandem mehr, nicht einmal ihr Pflegekind lässt sie noch in die Villa ein, wie Gendarm Lay am 22. April 1915 in einem Bericht mitteilt. Einziger regelmäßiger Besucher sei ihr Rechtsanwalt August Vogel aus dem Schweizer Großlaufenburg, notiert er.

Die Behörden prüfen, ob die Angehörige des kriegführenden feindlichen Staats ausweisen können. „Ihrer Heimreise nach Rußland würde nichts im Wege stehen, sie dürfte aber solche aber selbst nicht wünschen und hat auch noch nicht um die Erlaubnis nachgesucht“, schreibt das Bezirksamt Säckingen am 23. August 1915 dem Generalkommando des XIV. Armeekorps nach Karlsruhe.

Ausreise in die Schweiz: Olga von Leonowa verliert sich in Zürich

Schließlich bittet Leonowa am 19. Oktober 1915 darum, eineinhalb bis zwei Monate in die Schweiz ausreisen zu dürfen, um dort eine Kur anzutreten. Die Behörden verwehren ihr aber eine nur zeitweise Ausreise. Einen Monat später gibt Leonowa klein bei und beantragt die dauernde Übersiedlung die in die Schweiz. Die Behörden genehmigen nach langer Prüfung. „Die Ausreise hat über Waldshut-Coblenz zu erfolgen und muss am 1. V. [Mai] vollzogen sein. Rückkehr nach Deutschland ist für Kriegsdauer ausgeschlossen“, teilt das IV. Armeekorps in Karlsruhe am 12. April 1916 dem Bezirksamt Säckingen mit. Vier Tage später wird die Entscheidung Leonowa zugestellt.

Das Schweizer (links) und das deutsche (rechts) Laufenburg auf einer historischen Luftaufnahme vom 5. September 1949. Nach ihrer ...
Das Schweizer (links) und das deutsche (rechts) Laufenburg auf einer historischen Luftaufnahme vom 5. September 1949. Nach ihrer Ausreise aus Deutschland lebte Olga von Leonowa die ersten Wochen im Hotel „Solbad“, auf dem Bild erkennbar als erstes Gebäude direkt am linken Rheinufer. Leonowas Villa befindet sich knapp außerhalb des rechten Bildrands. | Bild: Werner Friedli/ETH-Bibliothek Zürich

Am 29. April 1916 meldet sich die Russin auf dem Rathaus Kleinlaufenburg ab und reist noch am selben Tag in die Schweiz aus. Ihre Möbel und ihren gesamten Hausrat lässt sie zurück und bestellt Hermann Probst, den Wirt des noblen Restaurants „Meerfräulein“ im Schweizer Großlaufenburg, zu ihrem Sachwalter. In Großlaufenburg nimmt Leonowa auch Wohnung zunächst im Hotel „Solbad“, 700 Meter Luftlinie von ihrer Villa entfernt. Später zieht sie nach Zürich. Dort verliert sich ihre Spur.

Das geheimnisvolle Verschwinden der Wissenschaftlerin

Das Bürgermeisteramt Kleinlaufenburg schreibt am 15. Februar 1918 an das das Bezirksamt Säckingen, dass auch ihr ehemaliger Anwalt Vogel keinen Kontakt mehr zu Leonowa habe: „Nach seiner Aussage von gestern, soll sein letzter Brief von Zürich als unbestellbar zurückgekommen sei, also der Aufenthaltsort der v. Leonova z. Zt. ist unbekannt.“ Am 3. April 1918 teilt der Landeskommissär für die Kreise Konstanz, Villingen und Waldshut dem Säckinger Amtmann mit, dass ihr Vertrauter Probst „annimmt, daß die Genannte nicht mehr am Leben ist“.

Oberwachtmeister Seelig berichtet drei Tage später nach vertraulichen Recherchen an das Gendarmerie-Korps Säckingen: „Vor etwa einem Jahr verzog nun die Russin von Zürich nach Moskau.“ Seitdem habe keiner mehr etwas von ihr gehört.

Wladimir Iljitsch Lenin (Mitte) wird während der Oktober-Revolution 1917 von Revolutionären umringt (nach einem Gemälde von Serow). ...
Wladimir Iljitsch Lenin (Mitte) wird während der Oktober-Revolution 1917 von Revolutionären umringt (nach einem Gemälde von Serow). Während des Ersten Weltkriegs lebten Lenin und seine Frau als Exilanten in der Schweiz. Am 9. April 1917 fuhren sie mit einem Zug von Zürich nach St. Petersburg. | Bild: Tass/dpa

Ganz anders bei einem anderen Russen, der Zürich um dieselbe Zeit herum verlässt. Am 9. April 1917 beginnt am Zürcher Hauptbahnhof die Zugreise, die Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, nach Russland bringt. Lenins Ziel ist Petrograd, wie St. Petersburg inzwischen heißt, und die Weltrevolution. Seine Reisegruppe umfasst 32 Personen. Eine Olga von Leonowa ist auf der Liste nicht vermerkt.

Die häufigsten Fragen zu Olga von Leonowa:

Wer war Olga von Leonowa?

Olga von Leonowa war eine russische Wissenschaftlerin und Neurologin, die Ende des 19. Jahrhunderts in Moskau, Wien, Leipzig und Zürich studierte und forschte. Sie beschäftigte sich vor allem mit der Anatomie des menschlichen Gehirns und veröffentlichte mehrere Fachartikel.

Welche Rolle spielte Olga von Leonowa in der Wissenschaft?

Sie war eine der ersten Frauen, die in Europa ein Medizinstudium aufnahm und in der Neurologie forschte. 1894 trat sie als einzige Frau auf einer Tagung in Wien auf – neben Größen wie Sigmund Freud. Dennoch blieb ihre Karriere von Vorurteilen und Anfeindungen überschattet.

Was hat es mit der „Russenvilla“ in Laufenburg auf sich?

Olga von Leonowa erwarb 1910 eine Villa in Kleinlaufenburg, die im Volksmund „Russenvilla“ genannt wurde. Dort lebte sie sehr zurückgezogen, bevor sie während des Ersten Weltkriegs in den Verdacht geriet, eine Spionin zu sein.

Warum wurde Olga von Leonowa im Ersten Weltkrieg verhaftet?

Mit Ausbruch des Kriegs 1914 verdächtigten die Behörden sie, Informationen an Russland weiterzugeben. Sie wurde verhaftet, ihre Villa durchsucht und sie mehrere Monate im Gefängnis Säckingen festgehalten. Beweise für Spionage gab es jedoch nie.