Sira Huwiler

Einen halben Becher Naturjoghurt – sonst nichts. So sah Nicole Knörrs täglicher Speiseplan im Jahr 2010 aus. Das Mädchen aus Leibstadt ist damals 13 Jahre alt. Ihre Wirbelsäule zeichnet sich deutlich durch jedes noch so dicke Kleidungsstück ab. Sie ist zu schwach zum Gehen, Sprechen, Denken. Kann kaum sitzen, ohne einen pochenden Schmerz, denn Fett, Bindegewebe und Muskeln haben sich so weit abgebaut, dass sie fast mit blanker Haut und Knochen den Stuhl berührt.

Nur noch Haut und Knochen: Nicole Knörr 2013, mit einem BMI von unter 10.
Nur noch Haut und Knochen: Nicole Knörr 2013, mit einem BMI von unter 10. | Bild: Nicole Knörr

„Mir war kalt, immer“, erinnert sie sich. Denn ihre Körpertemperatur liegt damals nur noch bei 32 Grad. „Ich war fast tot, mein Körper hat in den Überlebensmodus geschaltet“, sagt Nicole Knörr. Und trotzdem hungert sie immer weiter, isst irgendwann gar nichts mehr, trinkt nur noch drei Deziliter fettfreie Brühe am Tag. „Das sind fünf Kalorien“, sagt sie.

Heute schüttelt Knörr den Kopf, wenn sie an die Zeit ihrer Magersucht zurückdenkt. Beim Interviewtermin in einem Waldshuter Eiscafé isst sie genüsslich ein Spaghettieis – rund 500 Kalorien. „Ich war damals nicht mehr lebendig, habe nicht mehr gelebt“, sagt sie, „ich hatte keine Freude, keinen Genuss, keine Entspannung – habe die Minuten gezählt, bis ich endlich wieder schlafen konnte.“

Das könnte Sie auch interessieren

Sie war nie zu dick, nie unzufrieden mit ihrem Körper, hasste den Blick in den Spiegel nicht. Doch als sie mit 13 Jahren sexuelle Gewalt erlebt, hört sie von einem auf den anderen Tag auf, zu essen. „Ich wollte nicht mehr, dass sich mein kindlicher Körper zur Frau entwickelt, wollte nicht mehr schön sein“, erinnert sie sich, „nach dem traumatischen Erlebnis gab mir das ein Stück weit das Gefühl von Selbstbestimmung zurück.“

Nur noch Haut und Knochen: Nicole Knörr 2013, mit einem BMI von unter 10.
Nur noch Haut und Knochen: Nicole Knörr 2013, mit einem BMI von unter 10. | Bild: Nicole Knörr

Sie beginnt, ihre Mutter zu belügen, sagt immer öfter: „Ich habe schon bei einer Freundin zu Mittag gegessen.“ Abends schüttet sie Joghurt in den Abfluss, sagt, sie sei satt, packt Müsliriegel aus, lässt die Verpackung offen liegen und spült den Inhalt die Toilette hinunter. „Um die wenigen Kalorien, die ich zu mir genommen habe, wieder abzutrainieren, habe ich heimlich Sport gemacht“, sagt Nicole Knörr, „ich habe mich im Badezimmer eingeschlossen, Sit-ups gemacht und bin auf der Stelle gejoggt“. Ihre Mutter ist hilflos.

Wie viel Knörr damals noch gewogen hat, will sie im Gespräch nicht sagen. „Magersüchtige suchen den Wettkampf, ich will niemanden anstacheln, mir nachzueifern“, sagt sie. Ihr Body-Mass-Index (BMI) lag unter zehn. Zum Vergleich: Normalgewicht hat man mit einem BMI von 18,5 bis 25, als stark untergewichtig gilt, wer einen BMI unter 16 hat. „Eigentlich war ich nicht mehr lebensfähig. Aber die Schmerzen, die Unterfunktionen meines Körpers – das alles habe ich akzeptiert.“ Erst, als die Klassenlehrerin Druck macht, kommt Knörr Ende September 2010 in eine Klinik, in der sie zum Essen gezwungen wird. „Das hat mir das Leben gerettet“, sagt sie heute, „aber der Kampf war noch lange nicht vorbei.“

Als sie wieder zu Hause ist, hungert sie weiter, aber isst immerhin rund 500 Kalorien am Tag – etwas Reis mit Gemüse. Verschiedene ambulante Therapien scheitern. „Weil ich alleine zu Hause essen musste, ohne Kontrolle“, weiß Knörr. 2013 fällt ihr BMI wieder unter zwölf. Die Noten in der Schule werden schlechter, ihre hohen Ansprüche setzen sie unter Druck. Sie weiß allerdings: „Ohne Nährstoffe kann ich nicht denken.“ Also beginnt sie, alles in sich hineinzustopfen, was sie sich so lange verboten hatte. „Das waren teilweise 6000 Kalorien pro Mahlzeit, die durch Abführmittel und Erbrechen wieder den Weg aus meinem Körper finden sollten“, sagt sie. Mehr als zwei Jahre leidet sie so an Bulimie.

Nicole Knörr heute: Die schlimmsten Zeiten sind überstanden. In ihrem Körper fühlt sie sich wieder wohl.
Nicole Knörr heute: Die schlimmsten Zeiten sind überstanden. In ihrem Körper fühlt sie sich wieder wohl. | Bild: Sira Huwiler

Erst 2016, als sie ihren heutigen Therapeuten in Zürich findet, der gezielt das Trauma durch die sexuelle Gewalt behandelt und nicht nur die Essstörung, geht es bergauf. „Da ist der Knoten geplatzt“, erinnert sie sich, „ich habe gemerkt, wenn ich darüber spreche, was mir angetan wurde, kann ich loslassen.“ Sie arbeitet ihre Wunden auf und kann sich endlich wieder erlauben, normal zu essen. In einem Buch („Magere Jahre – Wie ich meine Essstörung überwand“, Patmos 2017) verarbeitet sie ihre Essstörung, schreibt sich Kummer und Leid von der Seele. An Hunderten Schulen hat sie seither über ihre Magersucht gesprochen, um Jugendliche abzuschrecken und aufzuklären.

Sechs Jahre verloren

Heute weiß sie: „Ich habe sechs Jahre meines Lebens verloren, meine komplette Jugend.“ Durch die Bulimie hat sie heute Leistungsasthma, nur noch eine Lungenfunktion von rund 55 Prozent. „Die Magensäure hat alles verätzt“, sagt Nicole Knörr, „aber ich habe Glück, dass es mir körperlich sonst gut geht.“ Geheilt sei sie vermutlich nie. Knörr vergleicht ihre Situation mit der eines trockenen Alkoholikers: „Es gibt Tage, an denen ich sehr zu kämpfen habe. Besonders, wenn ich alleine bin, kommt ab und zu die Frage in mir auf: ‚Warum soll ich das jetzt essen, merkt ja keiner, wenn ich es einfach lasse’“, sagt sie, „aber die meiste Zeit geht es gut.“

Nicole Knörr hat sich ihr neues Lebensmotto tätowieren lassen.
Nicole Knörr hat sich ihr neues Lebensmotto tätowieren lassen. | Bild: Sira Huwiler

Der Traumatherapeut in Zürich steht ihr weiterhin zur Seite „Das ist eine wichtige Stütze“, so Knörr. Ab Herbst will sie in Basel Medizin oder Psychologie studieren. „Ich will Psychiaterin oder Psychologin werden, anderen Menschen mit Traumata und Essstörungen und deren Angehörigen helfen, so wie mir geholfen wurde“, sagt Nicole Knörr, „die richtige Hilfe war das Wichtigste. Jetzt kann ich nach vorne blicken und endlich wieder leben“. Auf ihrem Unterarm steht seit 2015 ein Tattoo-Schriftzug mit ihrem neuen Lebensmotto: „Never give up“ (deutsch: Gib niemals auf).