Gurtweil feiert 2024 sein 1150-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass berichten Bewohner, wie sich Gurtweil im 20. Jahrhundert entwickelt hat und welche Themen die Menschen beschäftigt haben. Maria Jordan (97) blickt auf ihre Kindheit in Gurtweil, die jungen Berufsjahre und das Familienleben.

„Es wurde nichts weggeworfen“, erinnert sich Maria Jordan, auch liebevoll s‘Marile genannt, im Gespräch „wie‘s früehner z‘Gurtwiel war.“ Geboren wurde sie vor knapp 100 Jahren, 1927, als jüngstes von acht Kindern. Ihre Eltern betrieben einen kleinen Bauernhof mitten im Dorf. Ihr Vater war auch als Straßenwärter berufstätig, die Landwirtschaft diente lediglich der Selbstversorgung. „Man musste mithelfe, sobald es ging und man einen Korb tragen konnte“, erzählt Maria Jordan auf alemannisch. Sie wurde hauptsächlich von ihren älteren Geschwistern – fünf Jungen und zwei Mädchen – erzogen, wurde dabei aber keinesfalls verwöhnt.

„Me hät nix weg‘gworfe“, erinnert sich Maria Jordan, auch liebevoll s‘Marile genannt.
„Me hät nix weg‘gworfe“, erinnert sich Maria Jordan, auch liebevoll s‘Marile genannt. | Bild: Alfred Scheuble

Einen Kindergarten gab es damals noch nicht, aber mit den Nachbarskindern habe man sich getroffen und gespielt, wenn es dann mal möglich war. „Es war immer Leben im Haus“, ergänzt die Seniorin. Einziges Spielzeug war anfangs „ä Butti“, eine Schaukel am Kirschbaum. Später, an Weihnachten, bekam sie eine Puppe und zur Erstkommunion kam ein kleiner Ball dazu. Und weil der Vater oft auch im Wald arbeiten musste, brachte er schon auch mal ein Stück selbstbearbeitetes Wurzelholz als Spielzeug mit.

Damals habe man den Namenstag noch mehr gefeiert als den Geburtstag. Als Geschenk gab es dann lediglich ein Ei, aber man durfte sich wenigstens wünschen, ob es als Spiegel- oder Rührei zubereitet sein sollte.

Die Schulzeit war für s‘Marile kein Problem, obschon die Lernbedingungen ärmlich waren. In der Schule waren die Klassen 1 bis 4 und die Klassen 5 bis 8 zusammen. Und immer mal wieder musste ein älterer Schüler den Lehrer vertreten. Geschrieben wurde noch auf einer kleinen Schiefertafel und die Hausaufgaben erledigte sie mit den Geschwistern am großen Stubentisch, in den ebenfalls eine große Schiefertafel eingelassen war.

Mit den noch teuren Hausaufgabenheften musste man sparsam umgehen und so kam es denn auch mal vor, dass der Lehrer bei der Hausaufgabenkontrolle zweifelte, ob sie überhaupt richtig erledigt wurden. Bei einem späteren Hausbesuch konnte er sich dann davon überzeugen, dass auf dem noch nicht abgewischten Stubentisch noch Spuren der Hausaufgabenbewältigung zu sehen waren.

Im katholischen Elternhaus von Maria Jordan war es außerdem Brauch, dass täglich mindestens eines der Kinder vor Schulbeginn um 6 Uhr in die Morgenmesse ging.

Das ist Alois Jordan, verstorbener Ehemann von Maria Jordan, bei der Bergung eines Deuchels (alte Wasserleitung aus Holzstämmen) aus dem ...
Das ist Alois Jordan, verstorbener Ehemann von Maria Jordan, bei der Bergung eines Deuchels (alte Wasserleitung aus Holzstämmen) aus dem 19. Jahrhundert, der 1998 im Zusammenhang mit Kanalarbeiten im Fischersteg gefunden wurde | Bild: Familienarchiv

Dann, mit zehn Jahren, wurde das Schulmädchen in den Haushalt der Geschwister Kaiser, damals Gemischtwarenladen in der Rathausstraße, zur Mithilfe aufgenommen. Erst nach dem Abschluss der Volksschule fing Maria Jordan an, im Krankenhaus in Tiengen zu arbeiten. Mit Kriegsbeginn wurde die 16-Jährige zunächst für den Wehrdienst zur Flugabwehr vorgesehen, wurde aber dann doch noch freigestellt.

Der Dienst im Krankenhaus sei vor allem zu Kriegszeiten sehr beschwerlich gewesen. So mussten bei Fliegeralarm zum Beispiel alle Patienten in den Kellerraum gebracht werden. Die Tagesarbeit bestand im Küchendienst gemeinsam mit fünf weiteren Mädchen – dort hat s‘Marile das Kochen gelernt – beim Einkaufen und Verteilen des Essens an die etwa 50 Kranken. Und das alles für nur 20 RM im Monat.

Als ihre Mutter gestorben ist, musste Maria Jehle, so hieß sie vor ihrer Heirat, wieder zu Hause ran an die Arbeit. Mit 27 Jahren heiratete sie den ebenfalls in Gurtweil aufgewachsenen Alois Jordan – für den Kauf der Eheringe hatten beide extra in der Sägerei in Gutenburg gearbeitet.

Die ersten Jahre seien auch durch viel Arbeit und Entbehrungen geprägt gewesen. Neben dem Haushalt arbeitete Frau Jordan noch „i de Zigarri Villiger“ in Tiengen und erst als das erste von vier Kindern auf die Welt kam, galt die volle Aufmerksamkeit nur noch der Familie.

Die wenige Freizeit nutzte Maria Jordan für ihr Engagement im Kirchenchor, dem sie bereits seit dem achten Schuljahr und insgesamt über 61 Jahre angehörte. Sie erinnert sich an viele schöne, aber auch herausfordernde Situationen. Ihren ersten Urlaub, der sie nach Polen ans Grab von ihrem im Krieg gestorbenen Bruder Georg brachte, erlebte sie erst im späteren Lebensalter. Vier Mal war sie dann auch in Rom, wo ihre beiden älteren Schwestern im Orden der Salvatorianer, der vom Gurtweiler Pater Jordan 1889 in Rom gegründet wurde, tätig waren.

Einer der vier Brüder von Maria Jordan war der Salvatorianerpater Franciscus Markus Jehle, hier während seiner Primiz 1951 in Gurtweil. ...
Einer der vier Brüder von Maria Jordan war der Salvatorianerpater Franciscus Markus Jehle, hier während seiner Primiz 1951 in Gurtweil. Er kam 1986 während einer Fahrt nach Rom bei einem Autounfall ums Leben. | Bild: Familienarchiv

Zum Ende des Gesprächs erinnerte sich s‘Marile noch an den Erwerb ihres Führerscheins. Heute eine Selbstverständlichkeit, aber noch in den 50er-Jahren für eine Frau eine absolute Ausnahme. 1956 schaffte sie die Prüfung, war somit eine von drei Gurtweiler Frauen mit Führerschein und der damalige Fahrlehrer bemerkte ihrem Mann Alois gegenüber: „Vodelli nomol, Jordan, häsch du aber ä flotti Frau.“