Am 31. März war es ein Jahr her, dass die ukrainische Armee die Stadt Butscha von russischer Besatzung befreien konnte. Zurückgelassen haben die Besatzer eine enorme Zerstörung und hunderte totgefolterte Zivilisten. Butscha ist zum Symbolbild der Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine geworden.

Dass noch einmal für längere Zeit Krieg auf europäischem Boden herrschen könnte, war lange Zeit für die meisten Menschen, so auch für mich, undenkbar. Und doch fallen in der Ukraine wieder Bomben auf friedliche zivile Ziele. Dies konfrontiert auch in Deutschland die letzten Zeitzeugen mit ihren Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, den viele als Kinder miterleben mussten.
Meine Großmutter Helga Heinath (so ihr Mädchenname), die in Laufenburg lebt, ist eine von ihnen. „Erinnerungen an den Krieg sind keine schönen Erinnerungen“, sagt sie im Gespräch.
Ich bin oft und gerne zu Besuch bei meiner Oma. Meistens sprechen wir über schöne und alltägliche Themen und nicht über den Krieg. Seit der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, ist mir bewusst geworden, dass auch meine Oma die Grauen eines Krieges, wenn auch eines vergangenen, kennt.

Sie war zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg 1945 endete. Wenn sie heute im Fernsehen die Nachrichten zum Krieg in der Ukraine und anderen Kriegsgebieten verfolgt, wird sie unweigerlich an ihre eigenen Erfahrungen erinnert.
Offen gesprochen hat sie bisher nicht darüber. Doch der neue Krieg und mein Geschichtsstudium haben bei mir das Interesse an Omas persönlicher Geschichte geweckt, sodass sie sich bereiterklärt hat, mir davon zu erzählen.
Im Januar 1945 belagert die Rote Armee die Heimatstadt
„Auch ich habe Erfahrungen mit russischen Soldaten [der Roten Armee] gemacht“, berichtet meine Großmutter Helga Heinath in Anspielung auf den Krieg in der Ukraine. Sie ist heute 86 Jahre alt und wurde 1936 in Elbing, damals Westpreußen, heute Elbląg, Polen, geboren. Im Januar 1945 belagert die Rote Armee die Stadt und es brechen heftige Kämpfe aus.
Wie es auch heute wieder der Fall ist, leidet vor allem die Zivilbevölkerung unter den Territorialkämpfen. Meine Großmutter erinnert sich daran, dass kaum etwas zu essen vorhanden war: „Wir haben uns von Kartoffelschalen und ganz kleinen Kartoffeln ernährt, die bei der Ernte auf den Feldern zurückgelassen wurden.“
Sie fand als Zehnjährige die Leichen ihrer Großeltern im Haus vor
Auch an Bombardierungen kann sie sich erinnern. Ihre Großmutter väterlicherseits sei in ihrem Haus von einer Bombe getroffen worden, während sie friedlich neben dem Kachelofen gesessen sei. Ihren Mann habe dieser gewaltsame Tod so aus der Bahn geworfen, dass er sich am selben Tag das Leben genommen habe. Meine Großmutter, damals noch ein Kind, hat die Leichen ihrer Großeltern so in deren Haus vorgefunden. „Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen“, sagt sie.

Sie berichtet mir auch von persönlichen Begegnungen mit russischen Soldaten. Diese hätten die Grundschule, in die meine Großmutter gegangen ist, besetzt. Dadurch habe sie die Grundschule nicht bis zur vierten Klasse abschließen können.
Ein Soldat reißt dem Kind die Ohrringe ab
„An eine Situation erinnere ich mich noch sehr genau“, sagt meine Oma. Sie habe immer schöne glitzernde Ohrringe getragen. Eines Tages sei sie damit am Fenster in der elterlichen Wohnung gestanden und sei von russischen Soldaten entdeckt worden. Diese hätten sich Zutritt zum Haus und der Wohnung verschafft „und haben mir die Ohrringe einfach aus den Ohren gerissen“.
Ich muss den Kopf schütteln über so viel Brutalität einem Kind gegenüber.
Frauen wurden damals wie heute von Soldaten vergewaltigt
Es sei damals auch zu Vergewaltigungen gekommen, wie mir meine Oma erzählen muss. Sie selbst sei davon glücklicherweise verschont geblieben. Eine Tante von ihr habe nicht so viel Glück gehabt. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit war Glück.
Diese sei mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt worden, sodass sie „auf allen Vieren nach Hause gekommen ist“, wie es meine Oma ausdrückt. Daher tun ihr die ukrainischen Frauen, die vergewaltigt wurden, besonders leid.
„Ich wünsche mir, dass wieder Frieden herrscht“
Es sind schwere und belastende Erinnerungen an eine Zeit vor fast 80 Jahren, die die Zeitzeugen wie meine Großmutter auch nach so langer Zeit nicht loslassen. Und es wird deutlich, dass durch die Wiederholung solcher Kriegsverbrechen in der Ukraine und anderswo die Aufarbeitung vergangener nie abgeschlossen sein kann.
Meine Oma fasst zusammen: „Ich wünsche mir, dass wieder Frieden herrscht. Dass die Menschen aus der Vergangenheit lernen und einsehen, dass Krieg nicht zielführend ist.“