Hat die Eskalation im Streit zwischen zwei syrischen Großfamilien damit begonnen, dass vier Männer einen anderen am Rathausplatz in Singen gepeinigt haben? Diese Frage steht bei anstehenden Verhandlungen am Amtsgericht Singen im Raum, wenn es um gemeinschaftlichen besonders schweren Raub und andere Delikte geht. Ab Dienstag, 24. Januar, stehen vier Mitglieder der Großfamilie vor Gericht, die am 14. Dezember 2020 auch bei der Messerstecherei am Friedrich-Ebert-Platz beteiligt war.
Wir zeichnen zum Prozessauftakt die bisherigen Geschehnisse nach.
14. Dezember 2020: Eskalation am Friedrich-Ebert-Platz
Hupen und Geschrei machten an einem gewöhnlichen Montagnachmittag auf ein ganz und gar ungewöhnliches Geschehen aufmerksam: Acht Männer haben sich am Friedrich-Ebert-Platz um einen Transporter geschart und traktierten die drei Insassen mit Fäusten, Tritten und einem Messer. Damit hörten sie erst auf, als die Polizei naht – und das Hauptopfer stark blutete. Videos der Tat verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in der Region.

Wenige Stunden nach der Tat wurde das Ausmaß der Verletzungen deutlich: Das damals 42 Jahre alte Opfer wurde so schwer verletzt, dass es notoperiert werden musste. Die beiden Beifahrer erlitten ebenfalls schwere Verletzungen.
Zuvor kam es im Bereich der Herz-Jesu-Kirche in Singen zu einer Schlägerei zwischen 15 bis 20 überwiegend Jugendlichen, die ebenfalls den Großfamilien zugerechnet werden.
Juni 2021: Ermittlungen abgeschlossen
Nach monatelangen Ermittlungen war im Juni 2021 klar, dass sich acht Männer vor dem Landgericht Konstanz verantworten müssen. Die Anklage lautete auf versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung. Verhandelt werden sollte nicht in Konstanz, sondern Stuttgart-Stammheim – aus Platz- und Sicherheitsgründen. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Angeklagten in Untersuchungshaft.
September/Oktober 2021: Prozess in Stuttgart-Stammheim
Die juristische Aufarbeitung der Messerattacke startete im September 2021. Dafür reisten die Prozessbeteiligten vom Kreis Konstanz für jeden der acht Verhandlungstage nach Stuttgart-Stammheim – 13 Verteidiger für die acht Angeklagten inklusive. Einige der Angeklagten machten Angaben zu ihrer Person und ihrem Werdegang. Sie schilderten, wie sie einige Zeit nach dem Kriegsausbruch in Syrien im Jahr 2011 nach Deutschland gekommen waren. Hier hätten sie Arbeit gesucht und ein normales Leben führen wollen.

An den folgenden Prozesstagen wurden unter anderem Videos ausgewertet, Übersetzungen besprochen und Chat-Protokolle analysiert. Immer wieder ging es dabei um die Frage, ob die Angeklagten das Opfer schlagen oder töten wollten. Einige Angeklagte legten Teilgeständnisse ab – wobei sie auch erstaunliche Aussagen machten, dass das Hauptopfer sich mit dem Messer selbst verletzt haben soll.
Urteil: Sechs Haftstrafen, zweimal Bewährung
Die acht Mitglieder einer syrischen Großfamilie wurden im Oktober 2021 wegen gefährlicher Körperverletzung zu teilweise mehrjährigen Haftstraßen verurteilt. „Wir haben es hier mit einem ausgesprochen brutalen Überfall zu tun“, erklärte der Vorsitzende Richter Joachim Dospil bei der Urteilsverkündung.
Dezember 2021: Anstifter reumütig vor Gericht
Nachdem die Geschehnisse der Messerstecher-Attacke juristisch aufgearbeitet waren, ging es um die Hintergründe. Ein Jahr nach dem Vorfall stand daher das Familienoberhaupt vor dem Landgericht Konstanz, das die Attacke angestiftet haben soll. Nachdem der Angeklagte am 5. Dezember 2020 von Mizr A. angegriffen worden sei, habe er sich rächen wollen und dafür seine Verwandten in Bewegung gesetzt. Dafür wurde er schließlich zu drei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.
Dabei zeigten sich einige Hintergründe: Der angeklagte Said E. entstammt der einen und das Hauptopfer Mizr A. der anderen Familie. Vor Jahren waren sie offenbar befreundet: „Sein Bruder war mein bester Freund und auch er war ein guter Freund“, sagte Mizr A.. Doch seit 2018 habe sich das Verhältnis verschlechtert, in dem Verfahren wurde mehrfach Geld als möglicher Streitpunkt genannt. Beide Familien bezichtigen einander, für den IS zu arbeiten.
März 2022: Geht es nun wieder los?
Am 29. März schien wieder ein blutiger Konflikt zwischen verfeindeten syrischen Großfamilien lebensgefährlich zu eskalieren. Anrufer meldeten ab 16.30 Uhr eine Schlägerei zwischen zwei Jugendgruppen auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum Cano. Dabei wurden zehn Beteiligte verletzt, vier davon mussten stationär behandelt werden. Ermittelt wurde im Anschluss gegen 24 Personen.

Die Stadt Singen reagierte mit einem Aufenthaltsverbot für die Innenstadt, das gegenüber 27 Menschen ausgesprochen wurde. Später stellte sich heraus: Nicht jeder hielt sich an dieses Verbot.
Einige Beteiligte der Singener Massenschlägerei waren laut polizeilichen Erkenntnissen auch bei der Auseinandersetzung am Herz-Jesu-Platz im Dezember 2020 dabei, die am selben Tag wie die Singener Messerattacke stattfand.
Mai 2022: Versöhnungsessen
„Wenn zwei sich streiten, müssen die Ältesten miteinander reden“, sagt Esat Kisaoglu. Er ist Unternehmer in Singen und hat zahlreichen syrischen Familien bei Wohnungssuche und Behördengängen geholfen. Im Frühjahr wollte er dazu beitragen, die Großfamilien miteinander zu versöhnen – was offenbar mit zwei Essen gelang.
Juli 2022: Hauptopfer war auch ein Täter
Einen Rollentausch vor dem Amtsgericht Singen vollzogen der Anstifter der Messerattacke Said E. und das Hauptopfer Mizr A., denn im Juli 2022 musste sich Mizr A. wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten. Er soll seinen Gegner am 5. Dezember mit anderen verprügelt haben, am Ende habe Said E. unter anderem einen Nasenbeinbruch und mehrere Prellungen erlitten. Dafür erhielt Mizr A. eine Strafe von vier Monaten auf Bewährung.
Januar 2023: Erneut Prozess gegen vier Familienmitglieder
Vier Männer sollen am 13. April 2020 – also sieben Monate vor der Singener Messerattacke – den damals 32-jährigen Neffen des späteren Hauptopfers nahe des Singener Rathausplatzes mit einem Gürtel geschlagen und entkleidet haben. Polizeibeamte griffen den leicht verletzten Mann nur mit einer Unterhose bekleidet gegen 22.15 Uhr auf, wie die Polizei damals berichtete. Er wurde ins Krankenhaus gebracht.
Verhandelt wird in diesem Fall ab Dienstag, 24. Januar, vor dem Amtsgericht Singen. Geplant sind mehrere Fortsetzungstermine.