Susan tritt in die Pedale. Sie jagt ihr Fahrrad, ein anthrazitfarbenes Trekkingbike, durch die Straßen zwischen Böblingen und Sindelfingen. Spät ist sie dran. Gleich beginnt die erste Stunde Physik, und schon wieder lautet die große Frage, ob sie pünktlich sein wird.
Sie wird unruhig. Nur noch über die Kreuzung, dann ist sie da. Blick nach rechts, Blick nach vorn, alles frei. Die letzten Meter bis zur Schule. Plötzlich ein Knall. Sie stürzt vom Rad, hört einen dumpfen Aufprall.

An mehr kann sie sich nicht erinnern. Bis heute. Für die nächsten zwei Wochen soll es das letzte sein, was sie wahrnehmen wird. Ihre Diagnose: Ein Schädel-Hirn-Trauma mit Schädelbasisbruch, eine Hirnblutung und – so vermuten es die Ärzte – ein epileptischer Anfall.
Für die damals 17-Jährige ist es der Startschuss eines Reha-Prozesses, der bis heute andauert und sie vermutlich bis an ihr Lebensende begleiten wird. Manchmal hadert sie noch heute, zehn Jahre später, mit sich. Und vor allem darüber, was sie bei ihrem Sturz nicht trug: einen Fahrradhelm.

Susan ist kein Einzelfall. In den vergangenen vier Wochen starben im Raum Konstanz zwei Frauen an Verletzungen, die sie bei Fahrradstürzen ohne Helm davongetragen hatten. In der Nacht zum 28. Juli verlor eine 24-jährige Radfahrerin auf dem abschüssigen Weg zwischen Uni und Schwaketenstraße die Kontrolle über ihr Rad, flog über den Lenker und erlag Tage später im Krankenhaus ihren schweren Kopfverletzungen.
Kurz vorher starb bereits eine 58-Jährige in der Klinik. Sie war am 13. Juli auf dem Bodenseeradweg auf Höhe Waldsiedlung Reichenau nach einer Kollision mit dem Vorausfahrenden von ihrem Pedelec auf den Boden geknallt. Auch sie konnten die Ärzte nicht mehr retten.
Michael Kaps, stellvertretende ärztliche Leitung der Frührehabilitation an den Kliniken Schmieder, plädierte aufgrund des enormen Verletzungsrisikos in der Vergangenheit schon mehrmals für eine Fahrradhelmpflicht.
Noch lieber seien ihm aber der Wille zum Selbstschutz und Aufklärung, sagt er. „Die Chance, einen Fahrradsturz völlig ohne Hirnverletzung zu überstehen, ist mit einem Helm um 50 Prozent höher“, erklärt Kaps beim Gespräch in den Allensbacher Schmieder-Kliniken.
Nur jeder Fünfte trug Helm
Der Reha-Prozess eines Patienten wird in vier Phasen unterschieden, die Frührehabilitation ist die zweite, direkt nach der Akutversorgung. Doch dorthin schaffen es manche gar nicht erst. Bei den Patienten, die in Folge eines Fahrradunfalls verstorben sind, habe nur jeder Fünfte einen Helm getragen, sagt Kaps.
„Dass das Tragen eines Helms zu 80 Prozent vor schweren Schädel-Hirn-Verletzungen schützt, ist Fakt, und das muss man auch kommunizieren“, so der 60-Jährige.

Seit 1998 arbeitet Kaps in Allensbach. „Ich habe im engeren Familienkreis neurologische Erkrankungen erlebt. Für mich war es ganz klar, dass ich mich in ein Neurofach orientiere.“
Patienten, die in Folge eines Fahrradsturzes neurologisch behandelt werden müssen, machen dabei einen großen Teil seiner Arbeit aus. „Wir nutzen sehr komplexe Sicherheitssysteme in modernen Autos. Beim Fahrradfahren befinden wir uns im Vergleich dazu aber noch in den 1960er-Jahren, wo man langsam die Erfahrungen macht, wie das Ganze sicherer geht.“
Seit dem Unfall im Dauerstress
Oftmals, wie im Fall von Susan aus Böblingen, ziehen Stürze ohne Fahrradhelm lebenslange Reha-Prozesse mit sich. Sie sitzt auf einer Holzbank unter einem Apfelbaum in der Parkanlage der Konstanzer Kliniken Schmieder, trägt ein blaues T-Shirt, schwarze Leggins und schwarze Sneakers.
Noch heute, zehn Jahre später, geht sie alle drei bis vier Jahre für mehrere Wochen stationär in Reha. „Hier kann ich runterkommen. Seit meinem Unfall bin ich im Dauerstress“, erzählt sie.

Die heute 28-Jährige möchte nicht, dass sie mit ihrem kompletten Namen im Internet zu finden ist. Zu sensibel und intim sei das Thema für sie. Die Verarbeitung des Unfalls beschäftigt sie noch heute. „Das war ein riesiger Einschnitt in meine Jugend. Heute kann ich das aber nicht mehr ändern.“
Nach ihrem Sturz sei für kurze Zeit nicht sicher gewesen, ob sie ihn überleben würde – monatelang sei sie anschließend in Reha gewesen, jahrelang plagten sie Kopfschmerzen und Müdigkeit. „Ich habe mich fast nie mit meinen Freunden treffen können, so erschöpft war ich die ganze Zeit.“
Sie erinnert sich an ihren ersten Reha-Aufenthalt kurz nach ihrem Sturz, und wie sie sich nach und nach in ihr Leben zurück kämpfte. Ihre Schule zog mit, räumte ihr bei Klausuren manchmal mehr Zeit ein. Und das, obwohl sie ihr Alltag so sehr schlauchte, dass sie auch im Unterricht immer wieder einschlief, weil sie so platt war. Ihr Abitur machte sie später trotzdem, sie studierte Wirtschaftsinformatik in Regelstudienzeit, arbeitet heute in der IT bei Mercedes.
Eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung
Auch Fahrrad fährt sie wieder – noch immer ist es das anthrazitfarbene Trekkingbike, dass sie einst mit ihrem Vater aussuchte. Im Wunsch, dass künftig mehr Verkehrsteilnehmer einen Helm tragen, sind sich Patientin Susan und Arzt Michael Kaps einig. „Der Helm ist eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung“, so Kaps.
Sie stimmt ihm dabei zu: „Meine Egal-Haltung ist heute weg. Ich bin vorsichtiger in dem, was ich tue – und ich wünschte, dass das die anderen Fahrradfahrer auch wären.“