Fast zu einer Geschichtsstunde wurde die 15. Verleihung des Gustav-Struve-Huts der Wehrer SPD an den ehemaligen Landtagsabgeordneten Hidir Gürakar. Ganz ohne aktuelles Wahlkampfgetöse besannen sich die Sozialdemokraten auf die Grundwerte Struves in der badischen Revolution von 1848/49, die letztlich auch zur Gründung der SPD geführt hatten: Gleichheit, Freiheit und Solidarität. Dass der Kampf um diese Grundwerte auch heute noch aktuell ist, machte der neue Struve-Hut-Träger Hidir Gürakar deutlich: "Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass der demokratische Parlamentarismus in Europa wegen eines einzigen Themas, nämlich der Flüchtlinge, ins Wanken geraten kann", so Gürakar, der dafür appellierte, die Demokratie nicht als selbstverständlich wahrzunehmen, sondern sie gegen Angriffe zu schützen. Ausdrücklich nannte er die Türkei und Ungarn, wo von den Regierungen die Pressefreiheit in Frage gestellt werde. "Die größte Errungenschaft der Europäischen Gemeinschaft ist die Freizügigkeit", machte er deutlich. Junge Menschen seien mit offenen Grenzen groß geworden, wüssten dies aber kaum zu schätzen, weil sie es ja nicht anders kennen. Versuche, neue Grenzen und neue Mauern aufzubauen, müssten bekämpft werden. "Wir sollten wachsam sein, damit wir unsere Errungenschaften aufrecht erhalten!", so Gürakar.
Alexander Guhl hält die Laudatio
Auf die sozialdemokratischen Werte ging auch Bad Säckingens Bürgermeister Alexander Guhl in seiner mit viel Humor gewürzten Laudatio ein: Hidir Gürakar predige die Werte Brüderlichkeit und Gerechtigkeit nicht in Sonntagsreden, sondern lebe sie vor; er sei immer für die Menschen da und "im besten Sinne ein Menschenfänger", so Guhl. Als selbständiger Sozialarbeiter habe er an die 8000 Menschen betreut und damit bewiesen, dass er "nicht über Integration redet, sondern integrativ handelt". Dabei sei Gürakar selbst ein Beispiel für gelungene Integration, sei heute "deutscher als manch Einheimischer", wie Guhl mit Blick auf Gürakars Pünktlichkeit verschmitzt bemerkte.

Gürakar erinnerte an seine ersten politischen Schritte in Deutschland: Als er 1980 nach Wehr gekommen sei, habe er als großer Anhänger von Willy Brandt Kontakt zum SPD-Ortsverein aufgenommen. "Janos Peter, Hans Oldenburg, Karin Kaiser, Imma Annecke und andere haben mich aufgenommen und gefördert."
Ehrenbrief für Karin Kaiser
Eine zweite – überraschende – Ehrung wurde an diesem Abend der Urheberin und Schöpferin des Wehrer Gustav-Struve-Huts zuteil: Karin Kaiser, langjährige Stadträtin und Vorsitzende der Wehrer SPD, bekam aus der Hand der Bundestagsabgeordneten und SPD-Kreisvorsitzenden Rita-Schwarzelühr-Sutter den "Ehrenbrief der SPD" für ihre Verdienste um den Gustav-Struve-Hut. Nach 15 Jahren gibt Karin Kaiser nun die Organisation der Veranstaltung an den örtlichen SPD-Vorstand ab. "Eine geniale Idee" sei der Struve-Hut gewesen, lobte Bürgermeister Michael Thater. Welchen Stellenwert der Gustav-Struve-Hut heute habe, zeige sich auch am Publikum: Neben den SPD-Stadträten waren auch drei CDU-Gemeinderäte sowie Alt-Bürgermeister und FDP-Kreisrat Klaus Denzinger zur Verleihung gekommen. "Zusammen mit den Stadträten aus Bad Säckingen sind wir fast beschlussfähig", flachste Thater angesichts der hohen Zahl ehemaliger und aktiver Mandatsträger im Raum. Der Ortsvorsitzende der SPD Kurt Wenk bedankte sich bei Karin Kaiser mit einem großen – natürlich roten – Blumenstrauß. Der frühere Wehrer Erhard Zeh sorgte mit seiner Gitarre und Arbeiterliedern für die gelungene musikalische Umrahmung des Abends.
Hidir Gürakar lebt seit 1976 in Deutschland, seine ersten Jahre am Hochrhein verbrachte er in Öflingen, bevor er nach Bad Säckingen zog. Der gebürtige Kurde mit früherer türkischer Staatsbürgerschaft war elf Jahre Bad Säckinger SPD-Ortsvereinsvorsitzender, SPD-Stadtrat und Bürgermeister-Stellvertreter. Von 2014 bis 2016 gehörter er dem baden-württembergischen Landtag an. Seit 1994 ist Hidir Gürakar deutscher Staatsbürger. An dem Tag, an dem er mittags seinen neuen deutschen Pass erhielt, konnte er sich abends für die Bad Säckinger SPD-Liste aufstellen lassen und zog prompt in den Gemeinderat ein.
Karin Kaiser und der Struve-Hut
Es war 1992, als die Stadt Wehr ihr 900-Jahr-Jubiläum feierte. Ein großer Festumzug, der die Marksteine der Stadt abbilden sollte, war dazu geplant. Auch Karin Kaiser wurde als Stadträtin und bekannte Geschäftsfrau gefragt, ob sie nicht teilnehmen wolle. "Wenn, dann nur als Amalie Struve", sagte sie. Die Ehefrau von Gustav Struve war alles andere als nur schmückendes Beiwerk des Revolutionärs. Sie war Publizistin, Freiheitskämpferin und galt als herausragende Frauenrechtlerin. In passender Kleidung nahm Karin Kaiser an der Seite von Franz Schmidt als Gustav Struve am Umzug teil.
Einige Jahre später hatte Karin Kaiser die Idee, wie die Ideale der beiden Revolutionäre im Bewusstsein gehalten werden kann: Mit dem "Gustav-Struve-Hut", den die Wehrer SPD jährlich an Persönlichkeiten verliehen wird, die sich in besonderer Weise um "Wohlstand, Freiheit und Bildung für alle" verdient gemacht haben. 2004 wurde der Landtagsabgeordnete Alfred Winkler als erster Struve-Hut-Träger ausgezeichnet. Die Idee des Struve-Huts machte übrigens Schule: Seit 2005 verleiht der SPD-Kreisverband Konstanz jährlich den Hecker-Hut, der an Struves Bundesgenossen Friedrich Hecker erinnert.
Die bisherigen Träger des Gustav-Struve-Huts: