Michael Steck nimmt Anlauf, springt und landet inmitten der Flammen. Funken sprühen unter ihm hervor. Mit einem langen zweiten Satz entkommt er der Hitze des Feuers wieder und landet auf dem Pflaster der Tiengener Innenstadt. Einzelne Glutnester im Häs und an den Strohschuhen klopft er mit den Händen ab. Dann gibt er den anderen Hexen das Zeichen. Der Aufbau funktioniert. Es kann gesprungen werden.

Dass Hexen auf Besen fliegen, ist allgemein bekannt. Dass ausgerechnet Hexen dabei aber auch durch brennende Scheiterhaufen springen, beweisen die Tiengener Schlosshexen. An ausgewählten Veranstaltungen tanzen sie während ihres Hexensprungs durch die lodernden Flammen. Die Tradition geht auf den 11. 11. 1993 zurück. An diesem Tag brennt das erste Hexenfeuer der Schlosshexen. Der aus Bräunlingen stammende Holger Frank hat die Tradition aus der schwäbisch-alemannischen Fasnacht seiner Heimat mitgebracht. „Es war ein Teil meiner Kultur, den ich in Tiengen vermisst habe“, erzählt er. Gemeinsam mit Kurt Baumgartner gründete er 1992 die Schlosshexen und kreierte ihre Traditionen. Er war damals die erste Schlosshexe, die durchs Feuer sprang.
Vorbereitung für den Hexensprung
Bevor das Feuer entzündet wird, zieht die Hexensippe, vom Winter geschwächt und müde, auf den Hexenplatz. Michael Steck, Vorsitzender des Vereins, erzählt als Oberhexe ihre Geschichte. Wie sie, hervorgegangen aus dem tiefsten Mittelalter, heilsame Kräuter sammelten, um ein kleines Almosen zu verdienen, wie ihr Häs durch die mühsamen Arbeiten mit Flicken und Blätzen versehen wurde und wie Waldgeister und Kobolde ihnen zusetzten und ihnen Warzen wachsen ließen.

Hintergründe der Hexenzünfte
Von der Bevölkerung wurden sie aufgrund ihrer Hässlichkeit verspottet: „Hex kumm, Hex kumm, Hex kumm, Hex, Hex, oh du alti Sudreckhex!“ Daraufhin wandten sie sich den finsteren Mächten zu, um als Rache Schrecken zu verbreiten. Während die Oberhexe ihre Geschichte erzählt, widmet sich die Alte Hexe dem eigentlichen Ritual. Sie opfert einen symbolischen Schafsbock auf dem Druidenstein. Die Hexen brauen aus seinem Blut einen Trank. Dann laben sie sich daran und erwachen zu neuem Leben. Sie halten ihre Fackeln ins vorbereitete Holz, kurz darauf schießen die ersten Flammen hervor. Während das Feuer wächst, tanzen die Hexen darum herum. Sie führen ihre Pyramide und den Besenlupf auf. Mittlerweile werden sie von einer ringförmigen, staunenden Menschenmenge beobachtet. Bei den ersten Sprüngen geht ein Raunen durch das Publikum. Am Hochrhein kaum bekannt, gehören Hexenfeuer mit und ohne Sprünge anderenorts zur Tradition, so zum Beispiel im Kinzigtal, auf der Baar oder stellenweise am Bodensee.
„Die Sicherheit ist uns sehr wichtig“, sagt Michael Steck. Noch bevor die Hexen ihre Masken aufgesetzt haben, bereiten sie minutiös das spätere Feuer vor. Es soll nach einem bestimmten Muster abbrennen. Die Reisigwellen werden entsprechend angeordnet. Äste dürfen nicht zu dünn, aber auch nicht zu dick sein. Niemand soll in den Flammen steckenbleiben. Das Brennmaterial haben die Hexen seit der vergangenen Fasnacht in den Wäldern gesammelt. Trockenes Stroh und Papierschnipsel dienen als Zunder.

Wie der Sprung genau funktioniert
Der Brauch hat sich im Laufe der Jahre kaum verändert. Gesprungen wird in vollem Häs, mit aufgesetzter Maske und in Strohschuhen. Nichts davon ist imprägniert, vieles aber mit klitzekleinen Brandlöchern und dem entsprechenden Rauchgeruch versehen. Für die Hexen sind das Ehrenmale. Die jüngsten Hexen – Mitglieder müssen mindestens 18 Jahre alt sein – werden langsam herangeführt. Sie springen als letzte, wenn das Feuer bereits schwächer ist. Trotzdem ist es für jeden Anwärter etwas Besonderes, die erste natürliche Angst davor zu überwinden. Die ältesten Springer sind Mitte 50. Niemand muss springen, aber es ist schwer, sich dem Nervenkitzel zu entziehen. Michael Steck weiß, warum: „Es ist ein Adrenalinkick, ja, aber es macht vor allem Spaß, das gemeinsam als Truppe durchzuziehen und unseren Zuschauern etwas Besonderes zu zeigen.“
Sicherheit geht vor
Die Sicherheit ist den Hexen sehr wichtig. Bisher hat es keine Unfälle beim Hexenspringen gegeben. Zu beklagen waren bisher lediglich einzelne verlorene Besen und Strohschuhe oder angesengte Bärte und Augenbrauen – ein Anfängerfehler: „Die Routiniers wissen, dass sie im Feuer nicht einatmen dürfen“, lacht Steck, „ansonsten zieht man sich das eine oder andere Flämmchen unter die Maske“. In ihrer Geschichte ist den Hexen nur eine einzige Brandblase bekannt. Sollte doch mal etwas schiefgehen, steht die Feuerwehr bereit. Das ist eine der vielen Auflagen. Die Retter müssen im Notfall sofort reagieren können. Ab und zu erhält eine Hexe auch Flugverbot, wenn sie sich im Laufe eines langen närrischen Tages zu viel an Hexentrank einverleibt hat. Das komme aber praktisch nie vor, sagt Steck, denn jeder möchte springen und jeder nimmt das Springen ernst. Notwendig ist auch eine Genehmigung von Stadt und Feuerwehr. Die Straße wird während des Springens gesperrt. Zuschauer werden mit Absperrband auf sicherem Abstand gehalten.
In diesem Jahr sprangen die Hexen bereits in Grafenhausen und Jestetten. Mittlerweile erhalten sie Anfragen für verschiedenste Narrentreffen. Ein jährliches Muss aber ist das Heimspiel in Tiengen. Am Schmutzige Dunschtig werden sie auf Besen und Strohschuhen wieder in der Trottengasse durch die Flammen tanzen.
Der Verein
Die Schlosshexen Tiengen haben begrenzt 27 Mitglieder. Gegründet wurden sie 1992. Vorsitzender ist seit vier Jahren Michael Steck. Während seiner 23-jährigen Mitgliedschaft hat er bereits Hunderte von Hexensprüngen absolviert. Bei rund 70 Hexenfeuern seit der Gründung kamen unter allen Mitgliedern so bereits Tausende von Sprüngen zusammen. Weitere Informationen und die ganze Geschichte der Hexen stehen im Internet (schlosshexen.org).