30 Jahre lang hat Winfried Kadow in seiner Schwenninger Hausarztpraxis Patienten behandelt. 20 Jahre davon hat er außerdem Suchtkranke mit Ersatzstoffen versorgt. Die Hausarztpraxis ist passé: Kadow hat sie im vergangenen Oktober an einen Nachfolger übergeben.
Projekt mit Alleinstellungsmerkmal
Zur Ruhe gesetzt hat sich der 68-jährige Mediziner jedoch nicht. Im Februar hat er am Schwenninger Marktplatz eine Schwerpunktpraxis für Suchtmedizin eröffnet. In Räumen, die er gemeinsam mit der Fachstelle Sucht angemietet hat, ein im Landkreis einzigartiges Projekt.
Rottweiler Arzt steigt ebenfalls ein
Demnächst wird das Team durch den Rottweiler Mediziner Herbert Huber ergänzt. „Er hätte in wenigen Monaten vor dem demselben Problem wie ich gestanden“, sagt Winfried Kadow. Denn: Der Nachwuchsmangel macht sich auch bei den Suchtmedizinern bemerkbar.

Kadow sagt, er wollte seine Patienten nicht unversorgt lassen. Sein Praxisnachfolger verfügt nicht über die nötige Weiterbildung, die für die Behandlung Suchtkranker Voraussetzung ist.
Arzt und Vertrauter
Lange haben Winfried Kadow und seine Frau Carmen deshalb überlegt, wie es weitergehen könnte. Viele der Patienten kommen seit Jahren zu ihm, offenbaren dem Arzt auch andere Sorgen und Nöte, egal ob es um die Kinder, die Partnerschaft oder den Job geht.
Kadow ist damit nahezu Einzelkämpfer: Im ganzen Schwarzwald-Baar-Kreis mit seinen mehr als 200.000 Einwohnern gibt es gerade einmal fünf Ärzte mit der Zusatzqualifikation für Suchtmedizin – Winfried Kadow eingerechnet. Landesweit versorgen 343 Suchtmediziner mehr als 10.000 Patienten.
Zahl der Suchtmediziner geht zurück
„In den Corona-Jahren ist die Zahl der substituierenden Ärzte bundesweit um sechs Prozent gesunken“, zitiert Kadow aus dem aktuellen Bericht der Bundesopiumstelle. Die häufigste Ursache dürfte das Alter gewesen sein, heißt es darin.
„Die fallen nicht auf. Die wollen nicht auffallen. Die sind versorgt und glücklich.“Winfried Kadow über seine Patienten
Hinzu kommt: Junge Ärzte reißen sich nicht gerade darum, die Weiterbildung „Suchtmedizinische Grundversorgung“ zu absolvieren, weiß der Mediziner, der selbst Prüfungen dafür abnimmt.

„Viele haben diese Vorstellung von Junkies, die ihnen die Praxis auf links drehen“, sagt der 68-Jährige. Er weiß es besser. Er hat Suchtkranke lange genug parallel zu seinen hausärztlichen Patienten betreut. „Die fallen nicht auf. Die wollen nicht auffallen. Die sind versorgt und glücklich.“
Hoher Dokumentationsaufwand
Dass sich viele junge Kollegen dennoch scheuen, sich um Drogenabhängige zu kümmern, kann das Ehepaar nachvollziehen. „Schon die Dokumentation ist ein großer Aufwand“, sagt Carmen Kadow, die als Medizinisch-Technische Angestellte schon in der vorherigen Praxis ihres Mannes arbeitete.
Medikamente aus dem Tresor
Die Präparate fallen allesamt unter die Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes, werden in Tresoren gelagert. Jede Entnahme muss genau protokolliert werden. Im durchgetakteten Alltag einer Praxis, die noch andere Patienten betreut, kaum zu bewältigen.

Wer zu Winfried Kadow in die Praxis kommt, ist oft verzweifelt, will die Sucht in den Griff bekommen. Die Gründe sind vielfältig. Manche haben Schulden, andere schlichtweg keine Quelle für ihren Stoff mehr, sagt Carmen Kadow. Wieder andere haben eine neue Arbeit gefunden.
Schwarzmarkt-Kauf kostet viel Zeit
Das ist zwar an sich gut, führt aber wiederum dazu, dass Suchtkranke keine Zeit mehr haben, ihren Bedarf zeitaufwändig auf dem Schwarzmarkt zu decken, weil sie im normalen Job-Alltag funktionieren müssen.
„Sucht gibt es in allen Schichten“
Mehr als 100 Menschen betreut die Praxis momentan. Die Altersspanne reicht von Anfang 20 bis 81. Manche leben im Pflegeheim oder werden von der Sozialstation betreut. Geschäftsführer seien ebenso darunter wie Arbeitslose oder Mütter, die unter der Therapie ihre Kinder bekommen haben. „Sucht gibt es in allen Schichten“, sagt Kadow. Viele seiner Patienten nehmen lange Wege in Kauf, um in die Praxis zu kommen.

Sie alle bekommen hier, was ihnen dabei hilft, ihre Abhängigkeit im Griff zu behalten: Tabletten oder Methadon in flüssiger Form. Vom Arzt verschriebene Opioide contra illegaler Heroinkonsum.
Anfangs kommen die Patienten täglich, um ihre Dosis unter ärztlicher Aufsicht einzunehmen. Egal, ob werktags, sonntags, feiertags: Winfried Kadow ist da, gibt Tabletten aus, pumpt Methadon in kleine Becher.
Drogenfreiheit ist das Fernziel
Irgendwann, wenn sie gut eingestellt sind, kann den Patienten eine so genannte Take-home-Verordnung ausgestellt werden: Auf Rezept bekommen sie ihre Wochenration mit nach Hause.
Drogenfreiheit, sagt der Arzt, sei dabei ein Fernziel. Bei der Substitution gehe es vor allem darum, die Patienten stabil einzustellen und sie zu resozialisieren. „Viele substituieren jahrzehntelang“, sagt Kadow. Bei der Suchtkrankheit sei es ähnlich wie bei Diabetes: „Ich kann einen Diabetiker auch nicht so lange behandeln, bis er kein Insulin mehr braucht. Er braucht es sein Leben lang.“
Substitution für ein normales Leben
Weil bei der Ersatztherapie, anders als bei einer Heroinsucht, keine quälenden Entzugserscheinungen auftreten, schaffen es viele erst unter der Substitution, sich wieder um ihr Leben zu kümmern: Schulden abbauen, Arbeit oder eine Wohnung finden, für ihre Familie sorgen.
Einen Rückfallschutz gibt es nicht
Rückfälle, sagt Kadow, gebe es immer wieder. „Das liegt in der Natur der Sache. Man kann sich davor nicht schützen.“ Dann schaut er – in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Sucht – woran es lag. Gab es privat oder beruflich Stress? Genügt die Dosis vielleicht nicht mehr?

Dann wird angepasst, geholfen, beraten, um die Patienten nicht wieder in den Strudel aus illegalem Drogenkonsum, Beschaffungskriminalität und dem stetigen Risiko einer tödlichen Überdosis geraten zu lassen. Nicht umsonst klebt an der Praxistür nach draußen ein großer Sticker mit der Aufschrift „Freiheit“.
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