Für einen Moment fühlt sich alles so unglaublich normal an. Vorne steht die Band im zuckenden Scheinwerferlicht. Dazwischen Menschen, die die Hände in den dunklen Nachthimmel recken und tanzen. Überall ausgelassene Stimmung, Pfandbecher und mitgebrachte Tetra-Packs. So, wie es mehr als 20 Jahre lange jeden Sommer war hier im Bodenseestadion, beim Konstanzer Sommer-Ereignis Rock am See mit wechselweise den Ärzten oder den Toten Hosen als Top-Band, worüber heute auch mehr keiner mehr meckern würde.

Doch dann fällt der Blick nach unten. In den kaum bespielten Stadionrasen haben sie Linien eingezeichnet. Rote und weiße. In die Abteile sind passgenau die Tücher und Decken platziert, die sich die Besucher mitgebracht haben. Zum Nachbarn sind anderthalb Meter Abstand, nahe kommt man sich allenfalls mit seiner eigenen Begleitung. Wer mal ein bisschen weiter nach vorn geht, um näher an der Band zu sein, wird von Sicherheitskräften in Warnwesten höflich, aber bestimmt wieder zurückgeschickt.
Und doch: Es ist der Moment, dessen fröhliche Kraft denen, die ihn miterlebt haben, noch lange in Erinnerung bleiben wird. Konstanz erlebt seine wohl größte Veranstaltung seit Beginn der Corona-Pandemie fast eineinhalb Jahre zuvor. Gut 2000 Leute sind ins damit fast ausverkaufte Bodenseestadion gekommen, um die Berliner Band Von wegen Lisbeth zu hören. Es ist das bestbesuchte Konzert bisher in diesem Sommer der vorsichtigen Neubeginne.

Zu normalen Zeiten würden zehnmal so viele Leute ins Stadion passen, aber Abstandsregeln müssen sein. Die Besucher – in der Mehrzahl studentischen Alters – halten sich fröhlich und trotzdem diszipliniert an die Regeln. Zur Stimmung trägt schon die perfekte Organisation am Einlass bei. Ausweis, Eintrittskarte, 3-G-Nachweis, Taschenkontrolle, alles geht flott, freundlich, friedlich. Die Spaßgemeinschaft tut alles dafür, sich den Abend nicht verderben zu lassen.

Gelöst schauen später Dieter Bös und Xhavit Hyseni von der Bühne ins weite Rund. Vor zwei Jahren haben sich der altgediente Konzertveranstalter und der Senkrechtstarter vom Campus-Festival zusammengetan und die Firma Kokon Entertainment gegründet. Nun erleben sie das dritte Konzert, dass sie überhaupt veranstalten. Nummer eins und zwei waren an den beiden Vortagen gewesen. Endlich können sie loslegen, sagen sie.

Nachdem Edwin Rosen plus Kompagnon mit ihrem 80er-Jahre-inspirierten, melodiösen und zugleich etwas bittersüßen Pop schon mal ein bisschen Stimmung gemacht haben, wenden sich Bös und Hysieni von der Bühne herab selbst ans Publikum. Und dann legen Von wegen Lisbeth los. „Doch der Fahrstuhl am Westkreuz / Riecht noch immer nach Pisse / Und du weißt nicht / Wie doll ich dich vermisse.“ Da sind sie, die fünf Berliner, die die Post-Schulband-Phase nun wirklich hinter sich gelassen, aber ihren Sinn für lakonisch-bissige Texte, schräge Vergleiche und ungewöhnlichen Instrumenteneinsatz nicht verloren haben.

Wie schon bei ihren Konzerten im Kula und beim Campus-Festival 2018 versprüht die Band jugendlichen Charme. Zum allerersten Mal überhaupt, sagt Sänger Matthias Rhode, spielen sie in einem Stadion. Und sie sind so weit weg vom heimatlichen Berlin wie sonst gar nie auf ihrer Tour. Doch bevor jetzt noch ein Gruß an die Mama kommt, geht es weiter mit guter, tanzbarer, meist lustiger und manchmal auch zart-nachdenklicher Popmusik.

Es wird getanzt und mitgesungen, und die Corona-bedingten Lücken zwischen den Menschen füllen sich zunehmend mit Wir-Gefühl. Daran ändert weder der kühle Abendwind noch der verbesserungswürdige Sound in der hinteren Hälfte etwas. Hauptsache, es gibt mal wieder so ein Konzert!

Applaus kommt auf, als Sänger Rhode auf eine seiner Textzeilen eingeht: „Warum ist die AfD immer noch da / obwohl ich heut‘ beim Yoga war?“ und daran eine, na ja, Wahlempfehlung knüpft.

Später wird es auch noch ganz offen politisch korrekt: In „Bitch“, dem vielleicht besten Lied der Band, wollen sie das despektierliche B-Wort nicht mehr singen (auch eine Rockband lernt ihre feministisch-zeitgeistigen Lektionen) und lädt das Publikum dazu ein, stattdessen „Schuft“ oder „Knecht“ zu singen. Da machen dann nicht alle mit.

Nach gut eineinhalb Stunden muss der Festival-Hunger gestillt sein. Zwei Zugaben, dann verlassen 2000 Leute auf Abstand das Stadion (von denen sich etliche später in den einzigen bereitstehenden Bus der Linie 5 drängeln werden). An den Bauzäunen sind schon Plakate für 2022 aufgehängt: die Toten Hosen hier im Stadion, erste Namen fürs Campus-Festival. Da fällt der Abschied von diesem Stück Normalität immerhin nicht ganz so schwer.
