Deutschland hat ein Analphabetismusproblem, jeder fünfte Erwachsene kann kaum lesen und schreiben. Da können wir noch so viele Leitartikel verfassen, Argumente wägen, politische Debatten führen: Wenn nicht mal jeder Fünfte dem zu folgen in der Lage ist, braucht sich niemand über merkwürdige Wahlergebnisse zu wundern! So sehe ich das, und so habe ich das diese Woche schon einmal geschrieben. Viel Zustimmung gab es, niemand merkte den Unsinn. Fast niemand.
Ein Leser, Anwalt, hat sich das mit „jedem Fünften“ genau angesehen und erkannt: Offenbar haben wir nicht nur mit Analphabetismus ein Problem, sondern auch mit der Mathematik. Denn was bedeutet „nicht mal jeder Fünfte“? Dass allenfalls jedem Sechsten es dann wohl gelingt. In diesem Fall könnten aber weit mehr Erwachsene kaum lesen und schreiben als nur 20 Prozent – was ja schon schlimm genug ist.
Jeder Fünfte, der einer Sache nicht folgen kann, ist etwas anderes als eine Sache, der nicht mal jeder Fünfte folgen kann. Zugegeben, die Sache ist vertrackt, und viele rätseln auch beim wiederholten Lesen, was hier falsch sein soll. Das liegt daran, dass Leser freundliche Menschen sind: Sie wollen einen Text unbedingt so verstehen, wie ihn sein Verfasser erkennbar gemeint hat.
Was bedeutet „nicht ohne Missfallen“?
In der Literaturgeschichte mangelt es nicht an Beispielen für dieses Phänomen. Gotthold Ephraim Lessing lässt in seiner Tragödie „Emilia Galotti“ die Mutter der jungen, ausnehmend attraktiven Titelheldin ausrufen: „Wie wild er schon war, als er nur hörte, dass der Prinz dich jüngst nicht ohne Missfallen gesehen!“
Und weil „er“ für Emilias Vater steht, können wir uns den Grund für seine Wildheit leicht denken. Wenn ein dahergelaufener Adelsspross sein lüsternes Auge auf die eigene unschuldige Tochter zu werfen wagt, ja, das treibt den Puls! Man liest‘s und blättert weiter. Dabei steht dort das glatte Gegenteil geschrieben.
Wie Lessing sich im Satz verheddert
Wäre das Wort Missfallen eine Zahl, so stünde das „Miss-“ für ein Minuszeichen. Es beschreibt das Gegenteil vom Gefallen. „Ohne Missfallen“, also zweimal Minus, bedeutete nun das vom Dichter mutmaßlich Gemeinte: dass der Prinz eben doch sehr erfreut vom Anblick der schönen Tochter gewesen ist. Leider aber verliert Lessing vor lauter Minuszeichen den Überblick und hängt zur Sicherheit ein weiteres „Nicht“ in seine Satzgirlande. Das besagt genau genommen: Der Prinz hat überhaupt kein Interesse an Emilia gefunden, schließlich ist er ein Mann von Anstand.
Leser sind gnädige Wesen, sie denken für den Autor mit. Danke, Leser!