Stolpersteine an vier Orten verlegte gestern der Kölner Künstler Gunter Demnig in der Stadt. Das sind Pflastersteine mit Messingtafeln, die vor dem letzten bekannten Wohnort der Menschen, deren Name eingraviert ist, ins Straßenpflaster eingelassen werden. Sie sollen an Opfer des Nationalsozialismus erinnern. In Tiengen sind es vor allem jüdischen Mitbürger, derer so gedacht wird. Der Freundeskreis Jüdisches Leben in Tiengen recherchierte die Lebensgeschichten dieser Männer und Frauen, die für eine Verlegung dokumentiert sein müssen.
- Zubergasse 2: An Ferdinand Schlesinger, seine Frau Jenny, Tochter Hedwig Lemmel und Tochter Erika Theresia Schlesinger erinnern seit gestern Stolpersteine vor der Zubergasse 2. Tochter Hedwig wanderte 1935 nach Palästina aus und heiratete dort. Sie hätte allen Grund gehabt, nie mehr zurückzuschauen. Doch Hedwig Lemmel hielt Kontakt zu den Tiengener Frauen, die in den 1930er Jahren mit ihr zusammen im Turnverein waren. Sie besuchte Tiengen mehrmals mit ihrer Tochter Rina Mor. Rina Mor war mit ihrer Familie mehrfach in Tiengen und nahm an der früheren Verlegung von Stolpersteinen teil. Jetzt wurde sie von einem ihrer Söhne und einem ihrer Enkel begleitet.
Die Eltern Schlesinger bleiben in Tiengen. In der Reichspogromnacht wurde der Pferdehändler auf einen Lastwagen gezerrt und in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Nach einigen Monaten ließ man Ferdinand Schlesinger frei, nachdem er unterschrieben hatte, sein Haus zu verschenken und über seine Erlebnisse zu schweigen. Als die Drangsalierung durch die Nationalsozialisten immer schlimmer wurde, wanderten auch Ferdinand und Jenny Schlesinger mit dem letzten Schiff am 27.
November 1939 ins damalige Palästina aus. Jenny Schlesinger überlebte die Flucht nur ein Jahr. Sie starb am 24. Juli 1940 bei der italienischen Bombardierung Haifas. Ihr Mann starb am 1. April 1950 in Haifa in Alter von 75 Jahren.
Die zweite Tochter des Ehepaares Schlesinger, Erika Theresia, wanderte nicht mit aus, sie heiratete Max Frank und floh mit ihm 1939 in die Niederlande, wo sie sich sicher glaubte. Dokumentiert ist die Inhaftierung des Ehepaares im Sammellager Westerbork. Das Ehepaar wurde 1942 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
- Hauptstraße 41: Die zweite Station der gestrigen Verlegung war die Hauptstraße 41. Dort führte Heinrich Guggenheim ein Farbengeschäft. Er galt als besonders freundlicher Geschäftsmann. So gab er einem Mädchen aus Gurtweil einen Liter Terpentinöl mit, obwohl sie nicht bezahlen konnte. Er verließ sich darauf, dass der Vater das erledigen würde. In der sogenannten Reichskristallnacht 1930 drangen SA-Leute in die Wohnung der Guggenheims ein, verwüsteten die Räume und ließen im Lagerkeller Ölfässer auslaufen. Heinrich Guggenheim wurde mit anderen Männern auf einem Lastwagen abtransportiert, der beim nahen Gasthaus „Hirschen“ wartete, seine Frau wurde auf einen anderen Wagen in die entgegengesetzte Richtung gezerrt. Die beiden Söhne Hans und Kurt hatten zu dem Zeitpunkt Tiengen schon verlassen. Bis zuletzt hatten sie gehofft, dass die Eltern mit ausreisen könnten. Von einer Cousine der Söhne ist ein Bericht überliefert, dass nach den beiden gesucht wurde.
Fanny Guggenheim wurde nach einer Nacht im Waldshuter Gefängnis nach Tiengen entlassen. Ihr Mann dagegen kam ins Konzentrationslager Dachau. Er durfte nach vier Wochen nach Hause, möglicherweise, nachdem seine Schwester seinen Militärpass nach Dachau geschickt hatte, möglicherweise aber auch, weil er Geschäft und Wohnhaus verkaufen sollte.
Das Ehepaar konnte am 10. August 1939 nach London ausreisen. Später bekamen sie eine Einreiseerlaubnis in die USA, wo sie ihre Söhne wiedersahen.
- Klettgaustraße 16: Josef Arzner, der mit seiner Familie in der Klettgaustraße 16 wohnte, flüchtete 1933 noch in der Nacht der Machtergreifung durch die Nazis aus Tiengen. Er war 1924 als Vertreter der Kommunistischen Partei in den Tiengener Stadtrat gewählt worden. Arzner hatte in Reden immer wieder auf die Gefahren des Nationalsozialismus hingewiesen. Er ging zunächst in die Schweiz, 1936 kämpfte er in Spanien im Bürgerkrieg aufseiten der Republikaner gegen Franco. 1937 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und Arzner wurde für staatenlos erklärt. Bis Kriegsausbruch lebte er in Paris, unterstützt vom Spanienkomitee. Bald darauf wurde er interniert und kam in verschiedene Lager.
Josef Arzners Frau und seine beiden Kinder durchlebten nach seiner Flucht eine schwere Zeit. Sie wurden aus ihrer Wohnung gewiesen, ihre Möbel wurden auf die Straße gestellt. Zum Glück nahm die Schwiegermutter die kleine Familie auf.
- Hauptstraße 61: Fanny Guggenheim lebte nach dem Tod ihres Vaters allein in der Hauptstraße 61. Sie war nahezu blind und auf Hilfe angewiesen und gehörte zu den wenigen jüdischen Mitbürgern, die noch in Tiengen geblieben waren. 1940 verließ sie die Stadt und zog zunächst in eine Blindenanstalt nach Berlin. Zu der Zeit war ihr Vermögen noch nicht beschlagnahmt, der vom Bürgermeister bestellte Hausverwalter leitete Überschüsse an Fanny Guggenheim weiter. 1942 wurde die Frau mit mehr als 1000 Menschen in die Nähe von Riga deportiert. Es ist dokumentiert, dass die Juden vom Bahnhof in den Wald getrieben und dort erschossen wurden.
Das Projekt
1992 verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig den ersten Stolperstein zur Erinnerung. Die Pflastersteine mit der Messinggedenktafel werden vor denjenigen Häusern ins Trottoir eingearbeitet, in denen die darauf genannten Opfer ihren letzten frei gewählten Wohnsitz hatten. Da es sich dabei in der Regel um einen öffentlichen Raum handelt, muss die jeweilige Ortsverwaltung zustimmen. In rund 1100 Orten in Deutschland und in 1600 Orten in 20 Ländern Europas liegen Stolpersteine. Rund 57 000 sind es laut Homepage von Gunter Demnig bis jetzt. 2012 wurden auf Initiative des Freundeskreises Jüdisches Leben in Tiengen die ersten Stolpersteine in Tiengen und Waldshut verlegt. Ein Stolperstein inklusive Verlegung kostet 120 Euro. Finanziert werden die Stolpersteine durch Paten.