Nein, Krebszellen oder ein gebrochenes Bein kann auch die zarteste Stimme oder schallendste Rockröhre nicht heilen. Dafür braucht es Ärzte und Medizin. Doch solche Schicksalsschläge sind nicht nur körperlich, sondern auch psychisch enorme Belastungen für Betroffene. Nicht nur in schwierigen Lebenslagen können sich musikalische Klänge und ja – auch der eigene schräge Gesang – laut wissenschaftlichen Studien durchaus auf die psychische und begrenzt die körperliche Gesundheit auswirken.
Auch Bettina Feucht durchlief unlängst eine Lebensphase, die sie vor aufwühlende Fragen stellte. Antworten fand sie beim sogenannten heilsamen Singen. Doch was hat es damit auf sich?

„Ist das jetzt alles?“
Die Liebe zur Musik begleitet Feucht schon ihr gesamtes Leben. Sie war jahrelang in der Blasmusik der Feuerwehrkapelle und der Kirchenmusik ihres Geburtsorts Pfohren tätig, leitete über zehn Jahre den Chor. Schon dort traf sie immer wieder auf Menschen, die sich nicht trauten zu singen. „Stimme ist etwas Intimes für Viele. Das hat mir schon damals immer wehgetan“, berichtet die 52-jährige. Anderen dabei zu helfen, ihre Stimme zu finden, sei ihr Herzenswunsch.
Die Musik sollte vor einigen Jahren erneut zum Anker ihres Lebens werden, als sie in eine Sinnkrise abdriftete. Der immergleiche Alltags- und Arbeitstrott führte sie zu der Frage: „Ist das jetzt alles? Was will ich eigentlich noch?“ Auf der Suche nach einer Antwort stieß sie auf ein Angebot aus Konstanz für sogenanntes heilsames Singen. Die Umschreibung faszinierte die leidenschaftliche Musikern und sie nahm am Gruppensingen teil. „Ich fand diese Erfahrung dann so schön, dass sich daraus der Wunsch entwickelte, so etwas auch selbst zu machen“, beschreibt sie ihren Weg.
Musik ohne Notenblätter
Seit diesem Jahr bietet Feucht selbst Gruppensingen heilsamer Lieder an, startete kürzlich mit ihrer ersten Gruppe in die Sessions. Dabei handelt es sich nicht um Werke, die man etwa aus dem Radio kennt. „Es sind Lieder ohne Notenblätter, mit wenig Text und vielen Wiederholungen“, fasst sie zusammen.
Das Singen soll konkrete Mantras, also motivierende Lebenseinstellungen oder rückversichernde Aussagen durch ständiges Wiederholen affirmativ vermitteln. Das funktioniert auch alleine, aber soll vornehmlich in Gruppen effektiv sein.
Als Leiterin von Singgruppen entwickelt Feucht die kurzen Vorlagen zu speziellen Themen wie etwa Trauer, Frieden oder Freude. Das gemeinsame Singen soll schließlich ein Gemeinschaftserlebnis für die Teilnehmer herstellen. „Gerade für Patienten mit Depressionen ist es eine Chance, sich mit anderen zu verbinden und positive Gefühle zu schaffen“, betont Ingrid Kappeler-Kewes, Musiktherapeutin in der Vinzenz von Paul Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie in Rottweil, den therapeutischen Effekt von Singen.
Singen als Therapiemittel
Gesang ist im Alltag der psychiatrischen Einrichtung fest verankert und Kappeler-Kewes schwört auf das Therapiemittel. „Wir singen in fast jeder Einheit. Die positiven Effekte sehe ich täglich.“ Stresshormone sinken und Glückshormone werden ausgeschüttet, was speziell in der Bewältigung von Trauer und Traumata hilfreich ist. Außerdem werde die Atmung aktiviert, was sogar Auswirkungen auf die Messwerte grundlegender Körperfunktionen zeige.
Dabei nutzt die Klinik ein breites musikalisches Spektrum, singt einerseits bekannte Volkslieder, mit denen Patienten positive Erinnerungen verbinden. Aber auch heilsame Lieder werden vermehrt gesungen, jedoch wählt die Therapeutin hier gezielt aus, schreibt selbst Texte. „Manche Texte gehen schon in den esoterischen Bereich, wovon ich mich fernhalte.“
Die eigene Stimme finden
Auch Bettina Feucht möchte mit heilsamem Singen Menschen ansprechen, die an psychischen oder physischen Erkrankungen leiden. Aber sie betont, dass alle emotionale Blockaden erleben, die Gesang lösen kann. „Das Singen ist unsere eigentliche Muttersprache und erlaubt es Emotionen einfacher Ausdruck zu verleihen.“
Für ihre Singgruppe, mit der sie sich seit Anfang Mai regelmäßig trifft, hat Feucht nun auch die Gitarre in ihr Repertoire aufgenommen. Noch ist es ein Lernprozess, aber „wenn man schon so viele Instrumente vorher gespielt hat, kommt man da schnell rein“, versichert die 52-jährige.