Abstreiten hilft nichts mehr; den Kopf wegdrehen auch nicht. Die Armut im Landkreis Konstanz wächst. Am deutlichsten wird das sichtbar bei der Singener Tafel, wo die Zahl der Kunden massiv angewachsen ist. Eine Ursache ist der Klimawandel, die andere der russische Feldzug gegen die Ukraine. Beides treibt die Energiekosten derart in die Höhe, dass Menschen mit kleinem Einkommen nicht mehr über die Runden kommen. In der Schlange vor dem Tafelladen stehen jetzt auch viele Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Plötzlich empfinden langjährige Stammkunden der Tafeln im Landkreis sie als Konkurrenz. Und nicht nur sie, sondern auch Personen mit niedrigen Löhnen, die sich bisher noch ganz normal versorgen konnten, stehen in der Warteschlange. Doch die Lebensmittelmengen vermehren sich nicht proportional. Es muss also geteilt werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Udo Engelhardt könnte noch viel mehr vom Verteilkampf erzählen. Er ist Mitglied der Landesarmutskonferenz und Mitbegründer der Tafeln im Hegau. Doch die Situation in den Tafeln ist nur ein Aspekt dieses Gespräches. Eigentlich soll ausgelotet werden, wie die Wohlfahrtsverbände auf die wachsende Armut in der Region reagieren wollen. Denn mittlerweile sind auch Menschen aus der Mittelschicht betroffen.

„Wir müssen das Thema Armut aus der Tabuzone rausholen“, sagt auch Regina Brütsch von der AWO. Gemeinsam mit der Stadt Singen, der Caritas, dem diakonischen Werk, dem Verein Kinderchancen, der AGJ-Wohnungslosenhilfe, dem Sozialdienst katholischer Frauen, der Deutschen Angestelltenakademie, dem Integrationsverein InSi und der Fridays-for-Future-Gruppe organisiert sie den „Markt der Möglichkeiten“, der am 15. Oktober zwischen 11 und 15 Uhr auf dem Heinrich-Weber-Platz stattfinden soll. Hierbei sollen die Besucher neben einem Unterhaltungsprogramm auch ganz praktische Tipps von den verschiedenen Sozialverbänden abholen können.

Das könnte Sie auch interessieren

Vor etwa einem halben Jahr hat sich die Singener Sozialrunde gegründet. Es gehe darum, Informationen und Aktionen zu bündeln, erklärt Udo Engelhardt. Man habe festgestellt, dass die einzelnen Verbände ähnliche Ziele verfolgten. Durch einen unbürokratischen Austausch könne man Doppelstrukturen vermeiden und gezielter vorgehen. „Immer mehr Menschen geraten in Armut“, sagt auch Manfred Maier von der Singener Wohnungslosenhilfe der AGJ.

Große Alarmzeichen vor dem Winter

„Alleine im September haben wir 43 Personen beraten, die ihre Miete oder Energiekosten nicht mehr bezahlen können.“ Die AGJ tut alles, um deren Obdachlosigkeit zu verhindern. Es geht um Prävention. Maier ist alarmiert, weil der Winter ja erst bevorsteht und die hohen Rechnungen für Heizkosten erst danach eintrudeln werden. Viele der Menschen, die ihre feste Bleibe verlieren, kommen bei Bekannten unter oder werden im familiären Umfeld aufgefangen, weiß Manfred Maier. „Wir bieten ihnen bei der AGJ zumindest eine postalische Erreichbarkeit“, klärt er auf.

Was ein Leben in Armut bedeutet, ist den meisten Singenern nicht bekannt. Darüber aufzuklären, ist auch Ziel der Veranstaltung am 15. Oktober. Der „Markt der Möglichkeiten“ will die Bevölkerung für das Thema sensibilisieren und Zusammenhänge darstellen. Zum Beispiel dafür, dass das Klima immer häufiger zum Fluchtgrund wird, weil Dürren oder Überflutungen den Menschen im globalen Süden die Lebensgrundlage entziehen, wie Agnes Vokshi von der Singener Gruppe von Fridays for Future (FfF) erklärt.

Thema schon vor dem Krieg gewählt

Der „Markt der Möglichkeiten“ ist eingebettet in die Landesweite Aktionswoche gegen Armut unter dem Motto „Armut im Klimawandel“. Das Thema habe man sich bereits vor dem Ukrainekrieg im vergangenen Herbst gewählt, erklärt Udo Engelhardt. Der Krieg hat die Situation erheblich verschärft, weil zum einen mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen und die Energiepreise wegen des russischen Gaslieferstopps explodiert sind. Es gehe darum Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen zu wecken, sagt Engelhardt. „Aus Sicht der Tafel sind wir am Limit.“ Deshalb fordert die Singener Sozialrunde einen Krisenstab für die Stadt. „Es geht um ein Frühwarnsystem und die Suche nach Lösungen“, erklärt Regina Brütsch.

Mehr Mitarbeiter für Beratung sind nötig

Während FfF für die globale Ungerechtigkeit sensibilisieren will, beleuchtet der „Markt der Möglichkeiten“ die soziale Situation auf lokaler Ebene. Dabei gehe es auch darum Vorurteile gegenüber Menschen in Armut abzubauen. Wie ernst die Lage ist, zeigt auch ein Blick auf die Schuldnerberatungen im Land. „Die Diakonie schlägt Alarm“, weiß Manfred Maier. „Sie brauchen mehr Mitarbeiter für die Beratungen.“

Es ist keine leichte Kost, die da am „Markt der Möglichkeiten“ serviert wird. Und doch werde die Veranstaltung einen Festcharakter haben, verspricht Udo Engelhardt. Ein gemütlicher Austausch bei kostenfreiem Kaffee und Kuchen mit Musik ist geplant, ebenso wie Kinderaktionen und eine Podiumsdiskussion.