Meist bunt, oft gesellschaftskritisch und meterhoch: Die Street-Art hat Europas Städte erobert. Monumentale Graffiti-Kunst begeistert vielerorts Touristen und Einheimische gleichermaßen. In ganz Europa? Nein: Villingen-Schwenningen war bisher recht erfolgreich darin, diesen kreativen Trend zu ignorieren. Doch das soll sich nun bald ändern.
Streetart begeistert die Welt
In Mannheim hat das Kunstprojekt „Stadt. Wand. Kunst“ sensationelle Monumentalwerke an Haus- und Fabrikgebäuden hervorgebracht. Sie sorgen für Aufsehen in der internationalen Kunstszene und beim Publikum bis über den Atlantik. Ähnliches läuft derzeit in München. In Freiburg fördert die Stadtverwaltung aktiv den Zugang der Graffiti-Szene zur Gestaltung öffentlicher Wände und Mauern.
Die Streetart, sie hat längst die Schmuddelecke illegaler nächtlicher Schmieraktionen verlassen und hat sich zu einem populären Kunstzweig aufgeschwungen. Auch in unserer Region haben Stadt- und Gemeindeverwaltung das Potenzial der bunten Sprühkunst entdeckt. Denn sie sorgt für Lebensfreude und Inspiration in manch grauem Wohnumfeld.
Brigachtal aktiver als VS
Im kleinen Brigachtal wurde beispielsweise schon viel Graffiti-Kunst produziert, weitere Projekte sind geplant. Die Gemeindeverwaltung fördert derlei Aktionen. Da passiert mehr als im Oberzentrum. Auch Bad Dürrheim hat vor kurzem ein aufsehenerregendees Streetart-Event an der Stillen Musel mit vier Graffiti-Künstler durchgezogen.

Und wie sieht es in Villingen-Schwenningen aus? „Das ist eigentlich die einzige Insel, wo nichts geht“, sagt Jonas Fehlinger (31), bekannter Graffiti-Künstler aus Brigachtal. „Es gibt nicht einmal ein Geschäft, wo man Sprühdosen kaufen kann“, zuckt er mit den Schultern.
Eine Aussage, dass in VS nichts geht, ist allerdings erläuterungsbedürftig. Auch in der Doppelstadt, so betont Fehlinger, gibt es viel Interesse an Street-Art, gibt es eine wachsende Graffiti-Szene.
Das Interesse ist vorhanden
Dafür hat nicht zuletzt Fehlinger selbst gesorgt. Etwa mit der Gestaltung des Gerber-Ecks in Villingen. Dort zieren die Stars der heimischen Fastnacht, der Narro und Co., in bunten Farben eine Mauer und begeistern die Einheimischen.

Ebenso seine spektakuläre Sprayaktion mit Kollege Steffen Schulz auf den zum Abriss bestimmten alten Saba-Gebäuden in Villingen während der Corona-Zeit. Hunderte von Besuchern pilgerten in das Sanierungsgebiet, um die Graffitis auf den Abbruchgebäuden zu bestaunen.
Diese kreativen Sprühaktionen fanden aber alle auf privaten Grundstücken und Mauern statt. Die Feststellung, dass in VS nichts geht, bezieht Fehlinger insofern auf das lange Zeit fehlende Engagement der Stadtverwaltung.
Erst nach dem großen öffentlichen Interesse an der Saba-Aktion hat auch das Rathaus Interesse gezeigt, sich für Graffiti zu öffnen. Alle vorangegangenen Versuche von Fehlinger, die Kommune zum Mitmachen zu bewegen, blieben unbeantwortet.
Eine Mail an den OB öffnet Türen
Erst eine direkte E-Mail an Oberbürgermeister Jürgen Roth, so berichtet Fehlinger, brachte den ersten Durchbruch. Dieser habe dafür gesorgt, dass die Stadtverwaltung in Bewegung kam und öffentliche Wände und Gemäuer für Graffiti-Sprüher freigab. Daraufhin entstanden bunte Gemälde in der Unterführung beim Gymnasium am Romäusring und am Ringzughalt beim Schwenninger Eisstadion.
Doch dann ist das Engagement der Stadt zum Bedauern des Künstlers schnell wieder eingeschlafen. In seiner Mission, die Stadt VS aufzuwecken, wird Fehlinger seit geraumer Zeit von Nicola Schurr (38) unterstützt. Das passt ganz gut. Denn der SPD-Stadtrat engagiert sich mit seiner Initiative „VS ist bunt“ schon seit Jahren auf unterschiedlichen Ebenen für Vielfalt, Weltoffenheit, für Flüchtlinge und Jugendkultur.
Vor wenigen Tagen erst hat Schurr im Gemeinderat erneut angeboten, die Stadtverwaltung mit seiner Initiativgruppe tatkräftig zu unterstützen, wenn es um die Bereitstellung öffentlicher Wände für Graffiti-Kunst geht.
Der Bürgermeister lädt zum Gespräch
Das Angebot verhallte nicht ungehört. Baubürgermeister Detlev Bührer, so berichtet Schurr erfreut, sei unmittelbar nach der Sitzung auf ihn zugekommen. Bührer habe ihn und Jonas Fehlinger zu einem erneuten Gespräch ins Schwenninger Rathaus eingeladen. Die eingeschlafene Graffiti-Initiative soll damit wieder belebt werden.

Dazu fehlt es beispielsweise schlicht an einem amtlich autorisierten Schild, auf dem bestätigt wird, dass diese oder jene städtische Wand für Graffiti-Sprüher freigeben ist. Fehlinger und Schurr würden die Herstellung des Schildes übernehmen. „Doch dazu brauchen wir das Go der Stadt“, sagt Fehlinger.
Hilfsangebot von Schurr
An solchen einfachen Dingen hapert es in VS. Aus Freiburg, wo Fehlinger seine Ausbildung als Grafik-Designer absolviert hat, kennt er ganz andere Verhältnisse. Dort gibt es beispielsweise offizielle Flyer und Stadtpläne, auf denen geeignete Objekte für die Graffiti-Szene eingezeichnet sind. Dazu umfassendes Informationsmaterial.
„Wir wären bereit, einen solchen Flyer herzustellen und drucken zu lassen“, sagt Nicola Schurr. „Und wir wären auch bereit, die in Frage kommenden Wände blank zu machen, damit die Sprayer loslegen können.“
Jonas Fehlinger hat bereits die ganze Stadt durchstreift auf der Suche nach Arbeitsflächen. Entstanden ist eine Foto-Mappe mit annähernd 20 Wänden und Mauern, die geeignet wären. Die wird er Bürgermeister Detlev Bührer zur Absprache vorlegen.
Viel pädagogisches Potenzial
Der Grafiker sieht viel Potenzial für Graffiti-Kunst in VS. Auch im pädagogischen Sinne. Mit der Sprühdose, so unterstreicht er, kann man Schüler und Jugendliche abholen, sie für Kunst begeistern. Deshalb hält er Workshops ab, gibt Kurse in Malerei und Graffiti an Schulen. Auch Schulverweigerer versucht er zu begeistern. Was ihm oft gelingt. „Ich war früher selbst kein einfacher Schüler“, schildert er. „Jetzt unterrichte ich Kinder, die so sind wie ich früher war. Deshalb kann ich sie da gut abholen.“
Der Jugend etwas anbieten
Das Duo Fehlinger und Schurr sprüht förmlich vor Ideen, der Streetart in VS neue Möglichkeiten zu eröffnen. Wenn man sie denn lässt. Ihnen geht es nicht nur darum, mehr Farbe in die Stadt zu bringen. Sie wollen der Jugend Angebote machen, sie für Kunst und Kultur inspirieren, neue Horizonte öffnen.
Damit nicht alle Jungen nach der Schule von Villingen-Schwenningen wegziehen, weil nichts geboten ist. „Deshalb wollen wir diese Insel der Farblosigkeit beleben“, sagt Jonas Fehlinger. Er selbst ist aus der Großstadt wieder in die Heimat zurückgekehrt.