Herr Nachbaur, Sie stören sich am bundespolitischen Kurs der SPD. Ihre Mitgliedschaft haben Sie mit einem sofortigen Austritt angesichts der Bildung einer so genannten Großen Koalition (GroKo) von CDU und SPD beendet. Korrekt?

Ja, ich halte den bundespolitischen Kurs der SPD für fatal und die GroKo für einen Fehler von historischem Ausmaß. Fatal nicht nur für die Partei, sondern auch für das Land und für die politische Kultur in Deutschland. Die neuerliche GroKo ist ein Konjunkturprogramm für die AfD, sie sorgt dafür, dass die AfD noch stärker wird. Ich fürchte, dieser Prozess ist nicht aufhalten, auch wenn nicht mehr, wie in der letzten GroKo, 80 Prozent der Abgeordneten den Regierungsfraktionen angehören. Jetzt sind es auf Grund der Verluste der beiden großen Parteien nur noch gut 55 Prozent, aber dennoch: Die Rolle der SPD als Wurmfortsatz der CDU wird die Partei bei der nächsten Bundestagswahl weiter abstürzen lassen. Über einen Platz hinter der AfD darf sich dann niemand wundern. Ich rechne sogar fest damit – als politische Quittung.

Hinzu kommt: Die dringend notwendige Erneuerung der Sozialdemokratischen Partei wird in der Regierungsverantwortung nicht stattfinden. Sie findet in der Opposition statt oder gar nicht. Um ein weiteres Erstarken der politischen Ränder zu verhindern, ist die Konfrontation zwischen den beiden Volksparteien erforderlich. Die SPD muss dringend und deutlich nach links rücken, die CDU ein Stück nach rechts. Die permanente Kompromisssuche zwischen SPD und CDU in der Mitte hat jedes Eigenprofil unkenntlich werden lassen. Linke Sozialdemokraten und auch konservative Christdemokraten sind längst heimatlos geworden.

Die SPD war ja schon zuletzt in derselben politischen Koalition in der Bundespolitik gebunden. Was ist für Sie der Unterschied zu heute?

Die Bindung an die CDU/CSU hat sich doch für die SPD schon in der Vergangenheit als fatal erwiesen. Die GrokO 2005 bis 2009 brachte uns den Absturz von 34 Prozent auf 23 Prozent. 2009 bis 2013 haben wir uns in der Opposition etwas berappelt, bei der Wahl 2013 kamen wir auf 25 Prozent. Und was macht man? Man wiederholt den Fehler von 2005 und lässt sich wieder auf eine GroKo ein. Mit diesem Schritt war die Bundestagswahl 2017 bereits verloren. Ich bin 2013 in die SPD eingetreten, um die GroKo zu verhindern, das damals angesetzte Mitgliedervotum war für mich Anlass für den Parteieintritt. Jetzt haben wir eine Dauer-GroKo, das ist für die SPD existenzbedrohend und verheerend für das demokratische System im Land. Es ist für mich durchaus vorstellbar, dass die SPD die neuerliche GroKo als Partei nicht überleben wird.

Angesichts Ihrer Empfindungen haben Sie es ja in der SPD eigentlich recht lange ausgehalten bis heute.

Ich hatte nie vor, gleich wieder auszutreten. Zweimaligen Schiffbruch mit den GroKos, den hätte ich allerdings gerne verhindert. Das Gebot der Stunde wäre eine Minderheitsregierung gewesen, meinetwegen auch Neuwahlen. Letztlich war es auch nicht Überzeugung, die die SPD-Mitglieder mehrheitlich der jetzigen GroKo hat zustimmen lassen, sondern die von der Parteiführung geschürte Angst vor Neuwahlen.

Welche Rolle hat der Bundespräsident gespielt?

Herr Steinmeier hat meiner Meinung nach eine äußerst ungute Rolle gespielt. Auf die SPD hat er nach der GroKo-Absage offenbar ganz massiv Druck ausgeübt. Aber als Frau Merkel sagte, sie wolle keine Minderheitenregierung, wurde das vom Präsidenten widerspruchslos akzeptiert.

Wenn die Parteiführung jetzt mit Blick auf die Groko von staatspolitischer Verantwortung spricht, dann geht mir der Hut hoch. Staatspolitische Verantwortung hätte die SPD bewiesen, wenn sie die Oppositionsrolle angenommen hätte. Jetzt ist die AfD Oppositionsführerin im Bundestag. AfD-Abgeordnete dürfen im Bundestag als Erste nach der Regierung sprechen, sie haben längere Redezeiten, in diversen Ausschüssen fällt ihnen der Vorsitz zu. Als Oppositionsführerin bekommt die AfD ein Forum, das sie sich wohl kaum hat träumen lassen. Ich finde es in Ordnung, dass die AfD-Wähler eine Stimme im Bundestag haben. Aber das Gebaren ihrer Repräsentanten ist alles andere als eine Zierde für das Parlament. Die AfD-Vertreter beschränken sich auf Hetze und Parolen, sie machen Stimmung wie auf der Straße. Die Partei muss ihre Rolle im Parlament erst noch finden. Die Oppositionsführerschaft ist für diesen Findungsprozess unangemessen und beschert der Partei viel zu viel Aufmerksamkeit.

Weshalb haben Sie Ihren Radikalschnitt vollzogen? Sie hätten ja auch Stadtrat ohne Parteibuch bleiben können?

Das hat zwei Gründe. Zum einen halte ich es nur für konsequent, auch das Mandat abzugeben, wenn ich der Partei nicht mehr angehöre, auf deren Liste ich gewählt wurde. Auf gar keinen Fall aber wollte ich weiter für die SPD-Fraktion sprechen, nachdem ich nicht mehr SPD-Mitglied bin. Zum anderen hätte die SPD im Bad Dürrheimer Gemeinderat den Fraktionsstatus verloren, wenn ich partei- und fraktionslos im Gemeinderat geblieben wäre. So wie es jetzt läuft, bleibt der Fraktionsstatus erhalten, das war mir wichtig.

Sind Sie ein Stück weit auch froh, dass Sie jetzt raus sind?

Nein, froh passt nicht. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, trotz acht bis zehn Terminen im Monat. Klar, in Zukunft habe ich mehr Zeit für meine Familie, wir haben ja auch zwei kleine Kinder. Im Gemeinderat hätte ich trotzdem noch ganz gerne mitgewirkt, aber es passte für mich politisch einfach nicht mehr. Für eine GroKo-SPD kann und will ich nicht mehr eintreten oder gar Werbung machen. Die Parteiführung hat die letzten Monate über ein erbärmliches Schauspiel vollführt, die gesamte Partei befindet sich in einem schlimmen Zustand, braucht dringend eine Erneuerung, die in der Regierung nicht stattfinden wird.

Wann genau fiel Ihre Entscheidung, diesen Weg zu gehen? Gab es dabei den bestimmten Moment, der bei Ihnen der Auslöser war?

Der entscheidende Moment war für mich die Aufnahme der Verhandlungen zwischen CDU und SPD nach dem Scheitern von Jamaika. Als die Sondierungsgespräche begannen, habe ich beschlossen, wenn es nochmal zur GroKo kommt, geh ich. Die spontane Absage an die GroKo am Wahlabend des 24. September hatte für großen Jubel bei den SPD-Mitgliedern gesorgt, auch bei mir. Wir hatten Tausende Parteieintritte wegen dieser Festlegung. Sinnvoll und noch besser wäre es gewesen, eine weitere Zusammenarbeit mit der CDU schon vor der Wahl auszuschließen. Die SPD hätte einen Lagerwahlkampf führen müssen. Frau Nahles sagt jetzt wohl, ein „Weiter so“ wird es nicht geben. GroKo bedeutet aber nichts anderes als „Weiter so“ und Frau Nahles verkörpert dieses „Weiter so“ auch als Person. Sie steht wie kaum eine Zweite für die letzte GroKo und ausgerechnet sie wird jetzt aufgebaut als starke SPD-Führungsfrau, vielleicht mit künftiger Kanzlerkandidatur. Als Machtpolitikerin hat sie sich natürlich schlau verhalten; erst lässt sie Martin Schulz ins Messer laufen und dann wird auch Gabriel von ihr abserviert, der in meinen Augen einen guten Job gemacht hat. Und nun muss man auch noch lesen, sie verstehe sich so richtig gut mit der Kanzlerin, da kommt bei mir nicht gerade Freude auf.

Was genau ist in ihren Augen eigentlich sozialdemokratisch?

Die SPD ist aus der Arbeitnehmerbewegung entstanden, sie muss Politik für die Arbeitnehmer machten, auch für Rentner und sozial Schwache. Es geht um Chancengerechtigkeit und um Verteilungsgerechtigkeit, das sind die beiden wichtigsten Stichworte. Ein weiteres wichtiges Feld ist die Klimapolitik. Hier wurde und wird versagt, die nationalen Klimaziele für 2020 sind ja jetzt gerade im Koalitionsvertrag über Bord geworfen worden.

Und wie müsste sich die Partei in Ihren Augen positionieren?

In den großen Zukunftsfragen, die anstehen, bei Rente, Gesundheit und Klima etwa, muss sich die SPD klar gegenüber der CDU abgrenzen und versuchen, mittelfristig eine linke Mehrheit zu organisieren. Kein weiteres „Klein-Klein“ wie jetzt zum Beispiel bei der Grundsicherung, die Hebel müssen radikal und konsequent umgelegt werden. Bei der Rente heißt das Einführung einer Solidarrente, die mit der CDU nicht zu machen ist. Ziel muss sein, dass jeder von seiner Rente in Würde leben kann, ohne auf Aufstockung angewiesen zu sein.

Die SPD muss viel mehr strategisch denken und eben mal vier oder acht Jahre aufs Mitregieren verzichten.

Und: Die Linkspartei darf seitens der SPD nicht auf Grund persönlicher Animositäten und atmosphärischer Störungen noch länger ins Abseits gestellt werden. Ich halte das für einen großen Fehler, die Linkspartei ist der natürliche Verbündete der SPD. Die überfällige Annäherung kann allerdings kaum aus der Regierungsposition heraus stattfinden.

Sie sind 61 Jahre alt. Tragen Sie sich mit dem Gedanken, anderswo politisch aktiv zu werden?

Nein, aktiv eher nicht. Aktuell habe ich aber mit meiner Frau darüber diskutiert – sie ist wie ich 2013 in die SPD eingetreten – wem ich wohl meine Stimme geben würde, wenn jetzt Wahlen wären. Dabei ist mir klar geworden, dass ich auf Landes- und Bundesebene wahrscheinlich die Linkspartei wählen müsste.

Sie sind auch Vater von fünf Kindern. Wie war die Resonanz in der Familie?

Die Resonanz war verhalten, zwei meiner Kinder sind ja auch noch zu klein. Von meiner Frau, die dem Bad Dürrheimer SPD-Ortsverein vorsitzt, kam natürlich schon Kritik, obwohl auch sie gegen die GroKo gestimmt hat. Sie sieht das aber nicht so radikal, sie wird wegen der GroKo nicht das Handtuch schmeißen.

Wie genau tritt man eigentlich aus der SPD aus?

Sprichwörtlich gibt man das Parteibuch zurück. Das habe ich nicht gemacht. Ich habe einen Brief nach Freiburg geschickt. Mehr nicht. Das Parteibuch habe ich noch. Ich sage ja auch noch Wir, wenn ich von der SPD rede. Das muss ich mir jetzt erst einmal abgewöhnen.

 

Zur Person

Andreas Nachbaur, 61, ist in Ravensburg geboren. Er besuchte dort das humanistische Gymnasium, bevor er bei der Bundesmarine für zwei Jahre diente. In Tübingen studierte er Altphilologie, er wurde Vater und wechselte zu Jura und Politikwissenschaften, "reines Sicherheitsdenken", wie er heute sagt. Ab 1988 wirkte er in Ravensburg als Rechtsanwalt in einer größeren Kanzlei. Nach drei Jahren wechselte er an die Universität zurück und promovierte im Europarecht. So schlug er die Hochschul-Laufbahn ein. Bei der Hochschule für Polizei in VS gab es dann eine Stellenausschreibung. Mit Promotion und Berufserfahrung wurde er 1994 zum Professor berufen. Dem Bad Dürrheimer Gemeinderat gehörte er seit 2014 an.