Wo traf sich in den 1960er- und 1970er- Jahren die Jugend in Radolfzell? Im Stadtmuseum referierten kürzlich drei Zeitzeugen beim Museumsplausch über Jugend und Jugendkultur in Radolfzell. Ende der 1960er Jahre habe es in der Stadt zwar drei Kinos mit täglichen Vorführungen und das Haus der Jugend gegeben, führte Brigitte Walz-Richter in den Vortrag ein. Doch es habe keinen einzigen Ort in der Stadt für die Schüler, Auszubildende und Jugendliche gegeben, in denen sie sich unorganisiert treffen konnten.
Im Haus der Jugend in der Alten Forstei hatten junge Menschen nur Zutritt mit einer Mitgliedschaft beim Stadtjugendring. Beim gesellschaftlichen Umbruch der 1960er-Jahre erkämpften sich zuerst die Studenten in größeren Städten selbst verwaltete Räume. In Radolfzell entstand so beispielsweise der Hades im Gewölbekeller des Österreichischen Schlösschens. Die Stadt vermietete den Gewölbekeller an den Internationalen Studentenclub. Ein Meilenstein der Jugendkultur war die Eröffnung des Leierkastens in der Löwengasse 22 als ein selbstverwaltetes Jugendprojekt der 1970er-Jahre.
Wie entstand der Leierkasten?
Beim Museumsplausch über die 1960er-Jahre und die Jugendkultur der 1970er-Jahre hörte es sich nicht anders an, als die Aussagen des Jugendgemeinderats über den Zustand in der Kernstadt im Jahr 2022 auch. „Wir wussten als Schüler nicht, wo wir in Radolfzell hingehen sollen“, erzählte Tilmann Steinhilber. An den Wochenenden sei er mit seinem Freund nach Konstanz oder Singen gefahren.
Mit ihm war er sich einig, dass sie in Radolfzeller etwas eigenes machen müssten. Die Weinstube Langenbach an der Löwengasse 22 lag auf dem Schulweg von Steinhilber. Wenn die Wirtin morgens gelüftet habe, so konnte er einen Blick in die holzgetäfelte Stube werfen. Eines Tages blieben die Fenster geschlossen. Tilmann Steinhilber warf einen Blick in die Stube und entdeckte, dass das Lokal halb verwüstet und die Holzverkleidung abgerissen war. Steinhilber erkundigte sich beim Vorbesitzer für das Lokal. Das Haus gehöre der Stadt, sei baufällig und für den Abriss bestimmt, erfuhr er vom Vorpächter.
Unterstützung von Bürgermeister und Amt
Steinhilber ging schließlich zum damaligen Bürgermeister Fritz Riester und informierte ihn über die Absicht eine Jugendkneipe in der Löwengasse eröffnen zu wollen. „Vom ersten Moment war er positiv gestimmt“, erinnerte sich Steinhilber. Er versprach, sein Anliegen vor den Rat zu bringen. Nach der Veröffentlichung sei jedoch eine Hetze gegen das Projekt losgetreten worden. Doch Fritz Riester habe den Gemeinderat überzeugt. Und Steinhilber erhielt einen Mietvertrag für das Erdgeschoss für monatlich 50 DM.
Für den Betrieb der Gaststätte brauchte Steinhilber aber noch eine Konzession, bei dem sich etwas ganz Seltenes ereignet habe. Mit Parka, Stiefeln und langen Haaren – wie er auch schon den Bürgermeister aufgesucht hatte – erschien er im Landratsamt. Weitergeholfen habe ihm sein Nachname, der im Amt bereits als Hotelier-Name in Wangen bekannt war: „Ja was – der Enkel vom Otto will eine Kneipe machen. Das bekommen wir hin“, zitierte Steinhilber den zuständigen Verwaltungsangestellten.
Ein weiterer „magischer Moment“ seien die Verhandlungen mit der Brauerei als Bierlieferant gewesen. Obwohl Tilmann Steinhilber das Lokal wegen dem geplanten Abriss für höchstens ein halbes Jahr führen wollte, so habe er von der Brauerei eine Unterstützung in Höhe von 700 DM erhalten. Denn die Brauerei konnte in Erfahrung bringen, dass das Gebäude für zehn Jahre stehen bleiben sollte.
Gerüchte machten die Runde
Die Innenausstattung bestand aus einer Mischung aus Sperrmüll-Möbeln, alten schweren Sofas, Jugendstillampen und Versteigerungsobjekte aus ehemaligen Gastronomien. Durch die Stadt sei das Gerücht gegangen, dass im Leierkasten ein Puff entstehe, erinnerte sich der erste Wirt.
Im Leierkasten habe eine gigantische Stimmung und in der Stadt Aufbruch-Zeit geherrscht. Niemand habe dem Gastronomen hinein geredet und bei niemandem musste er eine Rechenschaft abgelegen. Lediglich manche Väter hätten ihre Töchter um 22 Uhr aus dem Lokal gezogen. Als verrucht kolportiert, sprachen manche Eltern ihren Kindern ein Besuchsverbot aus.
Nach einem Jahr kamen die nächsten Wirte
Als Arztsohn stand Steinhilber zuhause zunächst zwischen zwei Fronten. Seine Mutter sei hellauf begeistert gewesen, so Steinhilber. Mit ihrer Unterstützung habe er sich dann auch beim Vater durchsetzen können. Die Anerkennung seines Vaters habe er indirekt erhalten, als dieser im Leierkasten sofort ein sich durchbiegendes Regal mit 40 Flaschen Spirituosen mit einem Winkel stützte und absicherte.

Steinhilber blieb nicht lange Wirt: Nach einem Jahr übergab er den Leierkasten an seinen Nachfolger Hans-Joachim Schiller, der von vielen nur Hotte genannt wurde. Dieser führte mit vier weiteren Schülern den Leierkasten in Eigenregie weiter. Alle fünf Tage gab es einen anderen verantwortlichen Wirt.
Wohnzimmer für die Jugend
Der Leierkasten war für viele zu einem Wohnzimmer geworden, erinnerte sich Hans-Joachim Schiller. Die Kult-Kneipe war für diejenigen ein Treffpunkt, die in keinem Verein organisiert waren. Dort konnte man seine eigene Musik hören. Es habe weder einen Konsumzwang noch eine Kleidungsvorschrift gegeben.
Den langhaarigen Jugendlichen wurde dagegen der Zutritt zu anderen Radolfzeller Lokalen verweigert. „Im Leierkasten konnte man so lässig aufschlagen, wie man wollte“, so Schiller. Um Halbstarke zu vergraulen sei schlagartig die Musik geändert worden: „Die Rolling Stones raus und Ravels Bolero rein. Selten haben die Halbstarken eine zweite Runde Bolero überlebt“, erzählte Schiller. Halb eingeschlafen hätten sie den Leierkasten freiwillig geräumt.
Durch den andauernden Wechsel der jungen Wirte kam indes immer neues Publikum in den Leierkasten. Das Konzept der Selbstverwaltung blieb zehn Jahre bestehen. Nach fünf Jahren ging Hans-Joachim Schiller zum Studium nach Freiburg in eine neue berufliche Zukunft. Eine neue Generation wurde im Leierkasten aktiv und fand dort ihre Heimat. 1980 sollte das Gebäude abgerissen werden. Der Leierkasten schloss endgültig. Der letzte Wirt suchte vergeblich eine neue Lokalität in der Radolfzeller Kernstadt.