Vergnügt sitzen vier Menschen bei der Hafenuhr und unterhalten sich. Dass sie Multiple Sklerose (MS) haben, sieht man ihnen nicht an. Und genau das ist oftmals das Problem. Der unsichere Gang ist ein wenig typisch für die unheilbare Krankheit, die so viele unterschiedliche Ausprägungen haben kann.

MS-Patienten erleben Ressentiments im Alltag

Wie oft fühlen sich MS-Patienten dann Vorurteilen ausgesetzt. Carsten Pietsch (46) kennt das nur zu gut. In einem Supermarkt wurde er schon einmal angesprochen, er möge ob seines alkoholisierten Zustands bitte den Markt verlassen. Das Zücken seines Behindertenausweises klärte die unangenehme Situation. Pietsch hat aber Verständnis: „Ein Außenstehender sieht es ja nicht sofort.“

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Trotzdem: Diese ausgesprochenen oder unausgesprochene Ressentiments lösen Druck, ein Unwohlsein bei den MS-Patienten aus, und sie werden unsicherer. Bei den Treffen der jungen Initiative der Amsel-Kontaktgruppe ist das anders; da sind alle gleich. Amsel steht für Aktion Multiple Sklerose Erkrankter „Es ist wie eine Familie. Man muss sich nichts vormachen, und alles ist sehr entspannt“, erzählt Carsten Pietsch.

Die Treffen der jungen Amsel-Gruppe ist „für mich wie ein Aufatmen“, schildert Susann Thyssen (31) und fährt fort: „Da kann ich ich selbst sein, was mir in der normalen Gesellschaft oft schwerfällt. Amsel ist ein Rahmen, wo ich mich nicht krank, sondern völlig normal fühle.“ Die Diagnose MS stellt das Leben jedes Patienten und seiner Angehörigen auf den Kopf.

Die Diagnose zog den Boden unter den Füßen weg

So ging es vor sechs Jahren auch Susann Thyssen. Die gelernte Köchin hatte plötzliche extreme Kopfschmerzen. „Ich dachte, ich hätte den Kater meines Lebens, denn meine Schwester hatte zwei Tage zuvor Geburtstag“, erzählt sie. Erst sah sie verschwommen, dann Doppelbilder. Der Augenarzt diagnostizierte eine Sehnerv-Entzündung und schickte die junge Frau direkt zum Neurologen, der dann Multiple Sklerose feststellte.

„Es zieht einem ein bisschen den Boden unter den Füßen weg“, bekennt Susann Thyssen. „Ich möchte offen damit umgehen, denn dann habe ich mehr Freiheiten, weil ich mich nicht verstellen und nicht schauspielern muss.“ Wie die anderen Mitglieder der jungen Initiative hat sie sich bewusst für diesen Umgang mit ihrer Krankheit entschieden. Wohlwissend, dass nicht jeder dieses Selbstbewusstsein besitzt, kann sie dennoch jedem MS-Patienten genau diesen Weg empfehlen und macht Mut, sich zu der Kontaktgruppe zu gesellen. Ihre Erfahrungen sind durchweg positiv.

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„Mein Umfeld ist total offen. Ich habe auch meinem Arbeitgeber von meiner Krankheit erzählt und hatte die schlimmste Reaktion erwartet, was sich aber keineswegs bestätigt hat“, berichtet Susann Thyssen. Den Beruf als Köchin musste sie an den Nagel hängen. „Hitze ist gar nicht gut, dann verschlechtern sich die Symptome“, erklärt sie. Sie hat dann eine Umschulung zur Arbeitspädagogin absolviert.

Die Krankheit betrifft den Körper – nicht den Verstand

Gartenbauingenieurin Ulrike Soldner (51) verfährt ebenso: „Wenn ich ein Seminar gebe, dann erkläre ich im Rahmen der Vorstellungsrunde zu meiner Person: ,Ich kann nicht gut laufen. Ich habe MS.‘ Ich gehe mit meiner Krankheit offen um; sie betrifft meinen Körper, nicht meinen Verstand“. Die Leute würden immer super darauf reagieren. „Offenheit schützt!“, wirft Carsten Pietsch ein.

Ulrike Soldner bekam die Diagnose im Jahr 2012 nach einer zweijährigen Ärzte-Odyssee. Ihr Bein gehorchte ihr nicht mehr; sie dachte erst, dies käme aufgrund ihrer angeborenen Hüftgelenksfehlstellung. Dazu kamen noch Hautirritationen. Aber die Ärzte konnten nichts feststellen. „Ich war froh, endlich eine Diagnose zu haben, denn irgendwann bekommt man Zweifel, ob man sich das nicht einbildet. Im ersten Moment war es eine Erleichterung: Es gibt eine Krankheit. Natürlich – wenn man die Konsequenzen realisiert – ist es erschreckend“, stellt Soldner fest.

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Ihr Mann habe ihre „Krankheit der 1000 Gesichter“ rasch akzeptiert. In ihrem Bekanntenkreis war bereits jemand an MS erkrankt, und beide wussten, „was das im Extremfall bedeutet“. „Ich habe auch gesehen, dass Beziehungen daran zerbrechen. Der Bekannte war so verbittert. Es gibt viele, die die Krankheit nicht akzeptieren“, stellt Ulrike Soldner fest. „Bei mir hat‘s auch lange gedauert“, sagt Carsten Pietsch, und Soldner kontert: „Selbst- und Fremdwahrnehmung. Du dachtest lange, du wärst noch der Checker.“

Durch MS vom sportlichen Mann zum Frührentner

Das leugnet Pietsch mitnichten. Sportlich war er. „Ich habe aktiv Handball gespielt und bis zur Rente Marathon und Langstreckenlauf gemacht.“ Rente hört sich seltsam an, wenn ein 46-Jähriger diesen Begriff ausspricht. Der gelernte Bankkaufmann erfuhr von seiner Krankheit, als er 27 Jahre alt war. „Vermutlich hatte ich das schon mit 18 oder 19. Ich hatte Phantomblasenschmerzen, und kein Urologe hat was gefunden.“

Vor etwa zehn Jahren kam Pietsch, der auf einem Auge nur noch 20 Prozent, auf dem anderen zehn Prozent sieht, in Rente. „Früher bin ich 42 Kilometer gelaufen, heute schaffe ich gerade mal zwei, mit Pause“, berichtet er. Die Verrentung machte ihm aber zuerst wirklich zu schaffen. „Auf einmal ist man nicht mehr der Erfolgstyp, sondern fühlt sich auf dem Abstellgleis. Plötzlich fühlt man sich als ein anderer Mensch und muss erst lernen, dass es okay ist, wenn man nicht okay ist.“

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Dass es immer mehr Einschränkungen gebe, damit müsse man erst klarkommen und sich dann darauf konzentrieren, was man kann. Und man müsse an seiner Sichtweise arbeiten. MS-Patienten haben gute und schlechte Tage. In der jungen Amsel-Gruppe weiß das jeder. Da gibt es keine Fragen. „Und man kann über alles reden“, sagt Carsten Pietsch.

„Ich lebe jetzt und genieße mein Leben“

Die junge Initiative der Amsel besteht aus Menschen in unterschiedlichen Stadien der MS. „Dank der Medikamente geht‘s mir gut“, sagt Nicole Widua (32). „Ich war 21 und gerade mit meiner Ausbildung als Arzthelferin fertig.“ Erst hatte sie Probleme mit dem Laufen, dann sah sie Doppelbilder. Ihr erster Gedanke war, sie könne einen Hirntumor haben. Bei der Diagnose MS „war ich erleichtert. Besser als ein Hirntumor, denn mit MS kann man alt werden“, stellt Widua fest.

Obwohl sie fast keine Einschränkungen hat und normal arbeiten geht, hat auch sie sich der jungen Initiative angeschlossen. „Es ist ein schönes Miteinander, und wenn man Fragen hat, hat man immer einen kompetenten Ansprechpartner.“ Sie sieht die Diagnose MS „locker, denn ändern kann ich‘s eh nicht. Ich lebe jetzt und genieße mein Leben. Wenn es schlimmer wird, dann sehen wir weiter.“

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