Das Lachen und das vergnügte Plaudern ist schon von weitem zu hören. Die Geräusche erinnern an munteres Vogelgezwitscher. Der Name Amsel, so firmiert die Gruppe, passt perfekt zu der fidelen Clique, die sich zum Kaffeeplausch getroffen hat. „Bei uns singen aber auch die Frauen“, merkt Ulrike Soldner mit einem Augenzwinkern an, schließlich trällern im Vogelreich lediglich die Männchen.
Es ist kaum zu glauben, dass diese vier fröhlichen Menschen Multiple Sklerose, eine noch immer unheilbare Krankheit, haben. Aufgeben war für sie keine Option. Im Gegenteil: Sie haben ihr Schicksal angenommen und genießen ihr Leben, denn, wie Carsten Pietsch sagt: „Jeder Tag ist kostbar.“ Und sie wollen auch für andere MS-Kranke Beispiel geben und sie zum Mitmachen animieren. Die Losung dafür gibt Pietsch aus: „Versteckt euch nicht! Kommt raus aus dem Haus!“
Heidi Henseleit hatte zunächst ein bisschen Zeit gebraucht, bis sie zum ersten Amsel-Treffen ging. „Ich musste mich erst einmal selbst sortieren“, sagt sie. Jetzt ist sie froh, dass sie den Schritt gewagt hat, denn das, was sie erlebt, hat ihre Erwartungen übertroffen. Die Amsel-Regionalgruppe Konstanz ist nämlich eine Selbsthilfegruppe, die mit Freuden aus der Vorurteilsschublade hüpft.
Was für Vorurteile eigentlich? „Viele denken, in einer Selbsthilfegruppe wären nur alte Menschen, die jammern“, meint Heidi Henseleit. Tja, die Amsel-Gruppe tritt den Gegenbeweis an, obwohl jeder der Betroffenen Grund genug zum Jammern hätte. Tut aber keiner. Man tauscht sich aus, gibt sich Tipps und stärkt gegenseitig den Optimismus.
Das kleinere Übel?
Im Jahr 2018 bekam Heidi Henseleit die Diagnose Multiple Sklerose: „Erst hat nur die Hand gekribbelt und dann war die ganze Seite lahm“, berichtet sie. Aufgrund der mannigfaltigen, unklaren Symptome (typisch bei MS) tappten die Ärzte erst einmal im Dunkeln, vermuteten dann jedoch: „Zyste oder Tumor im Gehirn oder MS. Ich wusste nicht, was ich mir wünschen sollte“, erzählt Henseleit. „Erst beim zweiten Schub wars klar. Und ich war froh.“
Wie kann man über die Diagnose Multiple Sklerose froh sein? „Ein Tumor mitten im Gehirn wäre inoperabel gewesen“, stellt sie sachlich fest. Wenn eine Zyste im Gehirn blutet, nun, das wolle man auch nicht. MS war in diesem Fall das kleinere Übel.
Aber Heidi Henseleit gibt zu: „Ich rede es mir natürlich auch schön.“ Froh ist sie, dass die Symptome – „das Schlimmste war, als ich kein Gefühl in der Kopfhaut hatte“ – von alleine besser geworden sind. „Vielleicht kommt in den nächsten zehn Jahren nichts“, meint sie. Sicher aber kann sie nicht sein, denn ob und wann wieder ein Schub kommt, kann keiner vorhersagen.
Wenn das Leben auf den Kopf gestellt wird
Miriam Mößle tat sich schwerer mit der Diagnose. Aber auch bei ihr verrann viel Zeit, bis die Ärzte auf Multiple Sklerose kamen. „2015 wurde ich wegen Burnout krankgeschrieben. Nach einem Jahr bin ich zum Neurologen“, berichtet sie. Dieser habe nichts gefunden und sie zum Psychiater geschickt.
„Er hat gesagt: Da stimmt was nicht, und mich nach Singen ins neurologische Kompetenzzentrum überwiesen. Da kam es dann raus“, so Mößle, die offen bekennt: „An der Diagnose habe ich genagt. Das war brutal, dieser plötzliche Cut. Am Anfang hat es mir sehr zugesetzt. Es kann ja nur schlimmer werden.“ An Arbeiten war nicht mehr zu denken, und Miriam Mößle hatte immer gerne gearbeitet. Ihr Freundeskreis hat Miriam Mößle schließlich dazu gebracht, zu einer Selbsthilfegruppe zu gehen.
Dort hat sie vor dreieinhalb Jahren Carsten Pietsch, ihren jetzigen Lebenspartner, kennengelernt. „Am Anfang musste nur jemand das Wort MS sagen, und dann kamen ihr schon die Tränen“, erzählt Pietsch. „Er hat mir so viel beigebracht“, ist Miriam Mößle dankbar. Sie lacht über sich selbst, wenn sie sagt: „Jetzt jogge ich sogar.“ Das wäre ihr früher nie in den Sinn gekommen, aber Carsten Pietsch hat sie dazu motiviert.
„Der MS mit Kraft begegnen!“
„Natürlich jogge ich anders“, sagt sie. Und das liegt nicht nur an ihrer Seheinschränkung. Sie sieht nicht nur unscharf, die Bilder wackeln auch noch. Ihre Laufstrecke hat sie längst intus: „Ich kenne dort jeden bösen Stein und jedes böse Loch“, grinst sie. Und sie ist stolz auf sich selbst. „Ich habe jetzt richtig Muskeln an den Beinen. Ein tolles Erfolgserlebnis, was ich jetzt so kann.“
„Der MS mit Kraft begegnen!“, gibt Motivator Carsten Pietsch sofort das Motto aus. Dann schaut er seine Freundin liebevoll an und meint: „Wir haben uns schätzen und lieben gelernt und haben für uns festgestellt: Jeder Tag ist kostbar.“ Getreu dem Motto Carpe Diem (pflücke den Tag) erleben sie ganz bewusst alle schönen Momente und engagieren sich in der Amsel-Gruppe.
In der Amsel-Gruppe geht es nicht nur darum, Gemeinschaft zu erfahren. „Man geht zu den Treffen, unterhält sich, bekommt Tipps und kann auch über Peinliches reden. Wir haben keine Schranken“, sagt Pietsch, der sofort ergänzt: „Auch der Lebenswille wird geweckt.“
Obwohl die Symptome unterschiedlich seien, gäbe es doch immer wieder Parallelen. Die Erfahrungen anderer seien hilfreich, sagt auch Heidi Henseleit, die sogleich anfügt: „Ich war noch nie bei Treffen, wo so viel gelacht wird.“ Lachen tue gut und der Seele wohl, meint Carsten Pietsch und Ulrike Soldner sagt: „Wir haben das Recht, über uns zu lachen.“
Endlich sind wieder Treffen möglich
Jetzt freuen sie sich, dass aufgrund der Lockerung der Corona-Auflagen Treffen wieder möglich sind. Die Amsel-Gruppe will nämlich wieder richtig durchstarten. „Wir haben einiges in der Pipeline“, kündigt Ulrike Soldner an. Fest stehe bereits, dass jeden Monat ein Stammtisch stattfinde; abwechselnd in Singen und Konstanz.
Das erste Treffen im Frühjahr findet am Mittwoch, 13. April, um 18 Uhr im Restaurant Bellavita im Singener Hegau-Tower, Maggistraße 5, statt. Zum Konstanzer Café-Stammtisch kommt die Selbsthilfegruppe am Samstag, 14. Mai, um 14.30 Uhr im Heimathafen in der Cherisy-Straße 3 zusammen.
Auch weitere Veranstaltungen sind geplant: „Das Arztgespräch richtig führen – Der mündige Patient“ lautet zum Beispiel das Thema, über das Referent Holger Roik am Mittwoch, 12. Oktober, um 18.30 Uhr im Radolfzeller Milchwerk sprechen wird. Weitere Vorträge, unter anderem zur Teilhabe am Arbeitsplatz oder über Medikamentenentwicklung, seien derzeit in Planung, ebenso wie gemeinsame Ausflüge, Treffen mit anderen Amsel-Kontaktgruppen und sogar ein Sporttag. Alle aktuellen Informationen auf der Konstanzer Amsel-Seite.