Bei vielen Konstanzern weckt die Kapelle im Paradies Heimatgefühle. Das Besondere daran: Ganz normale Menschen unterhalten sie seit 100 Jahren. Die Bürgerbewegung, der sich jeder anschließen kann, feiert am Donnerstag, 26. Mai, also an Christi Himmelfahrt, im kleinen Rahmen das Jubiläum.

Abkehr von der Kirche? Nicht hier!

Landauf landab wenden sich Menschen von der Kirche ab. Die Gotteshäuser sind vielfach schöne Kulisse, werden aber nur wenig genutzt. Im Paradies – fast möchte man meinen, kein Wunder! – ist das anders. Mehr als 300 Menschen sind Mitglied im Kapellenverein St. Martin; sie unterhalten mit ihrem Geld und Sonderaktionen das Gotteshaus mit seinen etwa 100 Plätzen. Sie stellen die Kirche für Taufen, Hochzeiten und Hochzeitsjubiläen zur Verfügung.

„Das ist Tradition“, sagt die 73 Jahre alte Maja Schächtle, die neben der Kapelle aufwuchs und dafür aktiv ist, seit sie denken kann. Sie schließt die Kapelle zum Beispiel jeden Sonntag auf und schaut nach den Lichtern. Auch ihre Eltern und Großeltern seien für die Kapelle schon im Einsatz gewesen. Die 54 Jahre alte Andrea Frey sagt: „Die Kapelle begleitet einen auf allen Stationen des Lebens. Sie gehört dazu“ – ob bei Taufe, Heirat oder Beerdigung.

Elisabeth Bröker stellt fest: „Wer Mitglied ist, bleibt es meistens.“ Es spiele keine Rolle, woher der Mensch komme. Manchmal werde einer nach einer Hochzeit Mitglied. Gut 50 der 300 Mitglieder wohnen gar nicht in Konstanz, sondern etwa in Offenburg, Freiburg und Stockach.

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Das Paradies war ein Bauern- und Fischerdorf

Der im barocken Baustil gehaltene Kirchenbau bildet den Mittelpunkt und Blickfang im ehemaligen Bauern- und Fischerdorf Paradies, heute ein Stadtteil von Konstanz. Acht Menschen kümmern sich intensiv um die Kapelle. Sie schließen sie auf, schmücken sie mit Blumen, gestalten das Gebäude und den Baum im Garten weihnachtlich, pflegen den Vorplatz und das Grün um die Kapelle. Alle sind seit Jahrzehnten aktiv. Doris und Albert Grundler zum Beispiel bei der Pflege des Blumenschmucks.

Erichtet wurde die Kapelle im Stile des Barock.
Erichtet wurde die Kapelle im Stile des Barock. | Bild: Rindt Claudia

Auch die Mitglieder des Kapellenvereins wissen, dass heute nicht mehr alle im Paradies bleiben wollen oder können, dass es Menschen gibt, die aus anderen Regionen zugezogen sind, und dass es besonders schwierig ist, junge Menschen für die Kapelle zu begeistern. „Jeder, der christlich ist, ist willkommen“, sagt der 73-jährige Julius Lang, dessen Großvater 1922 zu den Gründungsmitgliedern des Vereins gehörte. Auf die Konfession kommt es nicht an. Es habe auch schon ökumenische und evangelische Feiern gegeben.

Doch wie war das Gotteshaus überhaupt entstanden? Im Jahr 1919 hatten Bürger im Paradies den Wunsch, die in die Jahre gekommene und viel zu kleine Kapelle St. Leonhard, auch St. Lienhard genannt, durch einen Neubau zu ersetzen. 1921 bekräftigten sie das Vorhaben und gründeten 1922 den Kapellenbauverein St. Martin im Paradies – im Einvernehmen mit dem erzbischöflichen Ordinariat.

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Gestohlene Figuren kehrten zurück

Die Bürger im Paradies erwarben von der Stadt das 790 Quadratmeter große Grundstück an der Kreuzung Fischenzstraße/Grießeggstraße und legten so die Grundsteine für den Neubau. Durch Spenden kamen Bilder und Skulpturen hinzu. Zwei seien einmal gestohlen worden und auf einem Flohmarkt in München wieder aufgetaucht, berichten Mitglieder des Vereins. Dort habe sie einer gesehen, der wusste, wo die Skulpturen einst standen, und die Polizei informiert. Die Figuren kamen so wieder zurück nach Konstanz.

Die Kapelle ist dem Heiligen Martin gewidmet, der nach der Legende seinen Mantel teilte, um die Hälfte einem frierenden Bettler zu geben.
Die Kapelle ist dem Heiligen Martin gewidmet, der nach der Legende seinen Mantel teilte, um die Hälfte einem frierenden Bettler zu geben. | Bild: Rindt Claudia

Spirituell wird die Kapelle von der katholischen Kirchengemeinde in der Altstadt betreut. Aber für den Unterhalt sorgen die Bürger, die dafür jedes Jahr 12.000 bis 15.000 Euro aufbringen müssen. Allein die laufenden Kosten liegen bei rund 7000 Euro im Jahr, rechnen Vereinsmitglieder vor.

Dem gegenüber steht ein geradezu winziger Vereinsbeitrag: Er beträgt acht Euro im Jahr. Zusammen mit den Einnahmen aus der Vermietung für Hochzeiten, Taufen und Hochzeitjubiläen, Spenden sowie einem Stand auf dem vom zweiten Zug der Konstanzer Feuerwehr ausgerichteten Kapellenfest gelingt es den Bürgern, die Kapelle in Schuss zu halten.

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Zinserträge fehlen dem Verein

Es werde aber immer schwieriger, auch weil die Auflagen bei den Festen steigen, sagt Julius Lang. Dazu komme, dass es kaum mehr Zinsen fürs Angespartes gebe. In einem Jahr, das nicht durch die Pandemie geprägt ist, kommt der Verein auf etwa 15 Taufen und zehn Hochzeiten im Jahr. „Jeder, der katholisch oder ökumenisch heiraten will, ist willkommen.“ Rainer Schächtle streicht auch einen Vorteil heraus, den die kleine Kirche für solche Festivitäten hat: Selbst bei einer kleineren Gruppe sehe die Kirche schon recht voll aus.

Der Bau wurde vor 33 Jahren aufwändig saniert, für 250.000 D-Mark. Hilfe kam vom Denkmalschutz. Handwerker spendeten Leistungen. Seitdem sind immer wieder Reparaturen angefallen, wie zuletzt am Turm, der saniert werden musste, weil das Blechdach nicht mehr dicht war. 10.000 Euro habe das gekostet, sagt Johannes Kumm, der frühere Leiter des städtischen Hochbauamts.

Die Paradieskapelle St. Martin wird von dem Kapellenverein St. Martin im Paradies-Konstan e.V betreut und gepflegt.
Die Paradieskapelle St. Martin wird von dem Kapellenverein St. Martin im Paradies-Konstan e.V betreut und gepflegt. | Bild: Schönbucher, Daniel

Der 76-Jährige, der im Paradies gegenüber der Kirche wohnt, engagiert sich ebenfalls im Kapellenverein. Er geht davon aus, dass im Innenraum für die nächsten zehn Jahre keine Investitionen anfallen. Es könne aber immer wieder Ausfälle geben, so wie den am Glockenwerk, das repariert werden musste. Es schlägt immer um 6.30 Uhr, 12 Uhr und 18 Uhr. Das waren die Zeiten, in denen die früheren Bauern aufs Feld gingen, Mittag machten und wieder heim gingen.

Vor 15 Jahren wanderte zudem die frühere Orgel aus dem aufgegebenen Priesterseminar im Konradihaus ins Kirchlein im Paradies. Dort ist man schon ein bisschen stolz, dass es seit einem Jahrhundert gelingt, die Kapelle zu unterhalten. Jeder könne sich daran beteiligen, egal, woher. Julius Lang sagt: „Der Glaube ist die Leitplanke.“