Das rote Herz wächst. Und wird immer größer. Bevor es platzt, lässt Henry Greif etwa Luft ab, das Herz schrumpft.
Eine rote Nase dominiert sein Gesicht. Henry Greif ist Clown. Er sucht im Alltag das Lachen. Aber finden das andere ebenfalls lustig? Ein Experiment am Nachmittag am Villinger Brigachpark.
Experimente mit roter Nase mitten im Leben
Der Mann mit der roten Nase und dem roten Herz in der Hand schaut verwegen über seine Brille und geht am Villinger Brigachufer auf eine Frau zu. Er streckt ihr die Hand mit dem Herz entgegen, hält den Kopf schräg. Er sagt kein Wort. Pantomime. Die Frau schlägt das dargebotene Herz aus. „Vielen Dank“, sagt sie mit zusammengekniffenen Lippen und läuft weiter Richtung Bahnhof.

Henry Greif verwandelt sich scheinbar, wenn er die rote Nase überstreift. Pedantisch hat er sie in einem Samttäschchen aus seiner Tasche hervorgekramt. Jetzt steht er am Brigachufer da mit seinem roten Herz und sucht sich einen neuen Ansprechpartner. Drei Jugendliche, die zuvor wie unverrückbar auf einer Bank lümmelten, stehen hastig auf. „Die haben das Weite gesucht“, sagt Greif später.
Wenigstens einer läuft nicht weg
Er nähert sich jetzt einem einzelnen Mann. Der sitzt auf einer Bank und kann nicht mehr flüchten, als plötzlich der Clown vor ihm steht. Der Mann schaut sehr gelassen von seinem Handy auf. Der Clown macht jetzt etwas, das unerwartet ist.
Er beugt sich zu den Schuhen des Mannes und nestelt an dessen Schnürsenkeln herum. Dann streicht er wie liebevoll über die Schuhe und reckt den Daumen hoch. Schöne Schuhe, soll das heißen.
Der Clown wendet sich einem Paar zu, das am Weg den Bach entlang daher spaziert kommt. Wieder streckt er das Herz den Passanten entgegen und wieder erhält er eine Abfuhr. Die Menschen winden sich wortlos um ihn herum und gehen plötzlich viel schneller.

Was passiert hier? Henry Greif sieht das so: „Alle haben Angst, sich zu blamieren“, erklärt er. Die Passanten trauen dem schönen roten Herz nicht. Es könnte ja sein, der Clown lasst es in dem Moment los, in dem einer interessiert zugreifen will.
Der herzförmige Ballon kann auch eine Spaß-Falle sein
„Ich entscheide mich immer im letzten Moment, was ich mache“, sagt der Clown. Senioren würde er nie auf diese Weise foppen. „Da blase ich das Herz auch schon mal ganz groß auf, mache einen schönen Knoten in den Ballon und überreiche es.“ Alle anderen müssen mit einem Streich rechnen, wenn der Mann mit dem roten Herz in seinem tapsig aber auch schleichend wirkenden Gang daherkommt.

Henry Greif war an der Villinger Bickebergschule Konrektor. Seit seiner Pensionierung bereichert er die Stadt mit seinem Wirken. Historisch-komödiantische Stadtführungen sind eine seiner Spezialitäten. Oder seine Auftritte immer wieder im Theater am Turm. Mit Alt-Oberbürgermeister Rupert Kubon trat er hier schon Seite an Seite auf.
Als Clown will er die Menschen bereichen und die Augen öffnen. Immer schon, besonders aber in diesen Wochen sein Ziel: Seine Gäste sollen etwas entspannter durchs Leben gehen können. Als Vorsitzender begleitet er seit sieben Jahren die Villinger Stadtharmonie.
Sorgen vergessen – für Kinder und Senioren
Der 73-Jährige tritt auch in diesen Tagen als Clwon auf. Krieg in Europa und rote Nase, kann das gut gehen? „Mein Programm steht unter dem Motto Sorgen vergessen“, erklärt er. Vielfach unterhält er Kinder, oft auch Senioren in Pflegeheimen.
Greif war nicht immer so. Eines Tages absolvierte er einen Kurs: Entdecke den Clown in dir, habe dieses Angebot geheißen. „Ich wusste immer, dass ich ein Clown bin“, sagt er.

Der Pensionär erzählt, die Entspannung sei oft mitten im Alltag zu finden. Man müsse nur richtig hinsehen. Zum Beispiel, wenn er sich derzeit auf eine Parkbank setze. „Eigentlich sind dann nur lustige Sachen zu sehen“, ulkt er ganz und gar nicht. Er meint das so. Und wenn sich nichts mit zündender Heiterkeit entdecken lässt? „Einfach mal vorstellen, wie der oder die mit einer roten Nase aussieht“, empfiehlt er aus seinen Parkbank-Studien.
Heute sitzt er auf den Stufen vor dem alten Kiosk. Menschen hetzen vorbei, andere schlendern. Greif amüsiert sich. Ein junger Mann kommt vom Bahnhof. Er trägt kurzes T-Shirt. Irgendwie stellt er seine Oberarme zur Schau – durchtrainiert. Greif sieht etwas anderes. „Gleich macht es rumms“, schmunzelt er. Tatsächlich steht da ein Laternenpfahl. Im letzten Moment wird das Hindernis umkurvt. Nichts ist passiert. Zumindest dem Passanten.
Henry Greif ist inspiriert. Er spielt die Szene nicht direkt nach. Aber er führt jetzt vor, wie er als Clown ein Hindernis überwindet. Das Hindernis ist jetzt die Hecke zur Brigachstraße hin. Der Clown will durch und schafft das scheinbar nicht. Mürrisch wühlt er im Geäst. Er windet sich um einen Stamm und kichert kurz, so als ob ihr ein paar Blätter kitzelten.
Er dreht sich und scheint im Dickicht wie verloren. Fast wie ein im Netz zappelnder Fisch hängt er jetzt zwischen zwei Hecken. Er ächzt und verzieht das Gesicht, die Hände sind zum Himmel gestreckt. Dann ist er durch. Erfolg. Der Clown grinst ein öliges Lachen.
Wenn der Problem-Berg des Lebens droht
Das Überwinden des Hindernisses symbolisiere: „Du stehst vor einem Berg und denkst, du bringst es nicht auf die Reihe“, übersetzt er die Szene. Ist der imaginäre Berg auch im Handy der Menschen, die hier vorbeigehen und auf das Display schauen anstatt die blühenden Narzissen oder das Plätschern des Baches zu genießen? Eine junge Frau sitzt auf einem Steinquader. Sie schaut nicht auf ein Handy, sondern beobachtet die Enten. Sie lächelt, scheint bei sich. Szenen wie aus dem Lehrbuch des Lebens. Alles am Brigachkiosk an der Paradiesgasse zwischen Villinger Bahnhof und Kaiserring.
Wie aus einem Problem eine Chance wird
Greif ist immer noch bei der Hecke. Er lacht unter seiner roten Nase. Das ist eine Minimalmaske, erklärt er. Und freut sich maximal. „Den Berg hier überwinden, sagt er auf die Hecke zeigend, „das ist so eine Szene, das kannst du Fehler ohne Ende machen. Das ist eine Chance, kein Problem“, offenbart er seine Clown-Betrachtungen.
Man müsse, so sinniert er, bei Fehlern doch sachlich bleiben. meint er. Es gelte zu analysieren, ob die Fehler bedrohlich seien. Das sei fast nie der Fall, formuliert er und verwiest auf das in vielen Facetten geregelte Leben. „Die Dinge leichter nehmen, wie in südlichen Ländern“, sagt er schwärmerisch.
Dann sitzt er wieder vor dem Kiosk auf der Treppe. „Das Leben ist wie ein Theaterspiel.“ Er meint das allerdings so: „Ich bin das Publikum und die Passanten sind auf der Bühne“, grinst er und schiebt seine Kappe zurück.
Das Zampolli-Eis als Quelle der Inspiration
„Ich spiele ja auch für mich selbst“, sagt Greif. Er könne in solchen Szenen versinken. Requisiten gibt es für ihn scheinbar überall. Greif setzt sich wieder. „Die schwierigste Performance ist die Pause“, sagt er jetzt. Und zeigt auf einen Herrn, der einen Becher Eis vom Zampolli in der Hand balanciert. Wieder purer Anstoß für Henry Greif: „Das könnte ich so spielen: Der Clown hat das Eis in der Hand. Es ist tiefgefroren und der Plastiklöffel vom Zampolli rutscht am harten Eis andauernd ab, bricht.“ Greif spinnt den Gedanken weiter: „Der Witz wirkt, wenn ihn niemand so erwartet.“
Die Mutter, die telefonierend das Kind anpacken lässt
Eine Frau geht Richtung Innenstadt. Sie telefoniert. Neben ihr schiebt ein sehr kleines Mädchen einen voll beladenen Kinderwagen. Die Frau deutet jetzt nach links mit ausgestrecktem Arm. Sie spricht weiter in ihr Telefon und läuft in die Brigachstraße. Das Mädchen schiebt ihr angestrengt den Wagen hinterher. Henry Greif verurteilt auch jetzt nicht. Er sagt, die Szene inspiriere ihn. Auf der Bühne könnte das ein stolpernder Auftritt mit einer Schubkarre sein.
Eine Frau läuft Richtung Bahnhof. Henry Greif schaut interessiert. Alles wirkt absolut nichtssagend. Nicht für den Clown. Die Frau hat eine Jacke über dem Arm hängen. Sauber zusammengefaltet – das gute Stück. Was sieht Henry Greif? „Daraus lässt sich was sehr Schönes machen“, grinst er. Er demonstriert, wie er die Jacke dauernd verlieren könnte. Der Clown, der mit sich und allem um sich herum kämpft – und scheitert.

Jetzt kommt ein Mann, er hat seinen Kittel über die Schulter geworfen und am Finger eingehakt. Henry Greif ist elektrisiert. Er lacht und zeigt, wie er als Clown sich die Jacke über die Schulter werfen und den Aufhänger verfehlen würde, während das Kleidungsstück zu Boden segelt. Oooach, würde der Clown bedauernd sagen und das Ganze mehrfach wiederholen – das ewige Scheitern.
Zuschauer aus sicherer Entfernung
Jetzt kommt wieder ein jüngerer Herr. Aus seiner Hosentasche hängt ein langes Schlüssel band. Ah, sagt Henry Greif wie genießerisch. So ein Band habe er auch. Er demonstriert Seilspringen mit dem viel zu kurzen Bändel oder er zeigt, wie er die Schnur verliert und clownesk sucht. Er zeigt das auf einer Wiese. Jetzt schauen Passanten zu. Aber aus sicherer Entfernung.
Greif packt seine rote Nase weg. Sorgfältig schlägt er sie in die Schutzhülle ein. Er schaut über den Platz. „Alle bewegen sich uniform“, stellt er fest. Tatsächlich sieht das auch farblich so aus. Schwarz, grau, olivfarben dominieren bei der Kleidung. Eine Frau trägt ein frühlingshaft gelbes Oberteil. Das blendet beinahe in der Umgebung. „Eine Farbe aus der Vogelwelt“ meint Henry Greif. Auch er trägt eine graue Jacke. Und meint: „Im Prinzip ist doch jeder hier ein Clown.“