Elisabeth Balensiefen kommt mit einem kofferähnlichen Gerät ins verwaiste Krankenhaus-Café. Dort wo sonst Geschirrgeklapper die muntere Gesprächskulisse ergänzt, herrscht gähnende Leere. Im Café Lichtblick ist nicht einmal mehr der Name Programm. Und doch soll hier Licht ins Dunkel der folgenschweren Corona-Erkrankungen gebracht werden.
Wenn Elisabeth Balensiefen ihren Koffer auf einem der Tische abstellt, kommt sicher gleich eine weitere Person ins Spiel: Ein Teilnehmer der Corona-Nachbeobachtungsstudie. Diese ist auf fünf Jahre angelegt und soll klären, wie eine überstandene Covid-Erkrankung das Leben der Betroffenen langfristig verändert. Der Koffer entpuppt sich als Blutdruckmessgerät. Auf dem Fußboden fallen jetzt Richtungspfeile auf.

Die Assistenzärztin hat das leerstehende Café zur Testarena für ihre Studie umfunktioniert. Hier erfasst sie im Rahmen ihrer Doktorarbeit Vitalwerte wie Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Herz- und Lungenleistung, Ausdauer, Belastbarkeit und psychische Gesundheit von ehemaligen Covid-Patienten. Ein sechsminütiger Gehtest gehört ebenso dazu wie zwei umfangreiche Fragebögen.
Das gleiche Procedere durchlaufen die Teilnehmer der Kontrollgruppe. Das sind Menschen, die bisher keine Berührung mit Sars-Cov-2 hatten. Auch geimpft sein dürfen diese Studienteilnehmer beim ersten Gespräch noch nicht sein. Fünf Jahre lang sollen beide Gruppen beobachtet werden. Dazu werden sie einmal im Jahr Fragen zu ihrer Lebenssituation, Risikofaktoren und Fitness beantworten.
Zu langfristigen Folgen gibt es bislang wenig Untersuchungen
So wollen Elisabeth Balensiefen und ihre Kollegen herausfinden, ob und wie stark das Virus die Lebensqualität der Betroffenen verändert. „Wir sind erst am Anfang“, sagt die Doktorandin. Zwar gibt es Corona-Viren schon sehr lange; nicht aber diese neue Form mit zum Teil sehr schweren Krankheitsverläufen bis hin zum Tod.
Die Idee zu dieser Studie hatte der Chefarzt der Medizinischen Klinik I im Singener Krankenhaus, Privatdozent Marc Kollum. Er hatte festgestellt: „Es gibt zwar viele Covid-Studien zum Akutgeschehen; zu den langfristigen Folgen gibt es bisher aber außer in Schleswig-Holstein kaum Forschungen.“

Die Besonderheit der Singener Studie besteht zum einen in der Regionalität und zum andern im Vergleich mit der Kontrollgruppe. Also jene Probanden, die bisher keine Infektion durchgemacht haben, aber im Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen der Post-Covid-Gruppe als Vergleichspersonen zugeordnet werden. Auch diese Menschen werden innerhalb von fünf Jahren verschiedene Krankheiten durchmachen. Es soll beobachtet werden, ob sie sich besser erholen als Long-Covid-Patienten.
Angeregt wurde Kollum zu der Studie durch die Situation in der Intensivstation des Singener Krankenhauses. In der dritten Welle kommen vor allem die mittleren Altersgruppen mit schweren Verläufen. Während er die akute Lage beschreibt, verweist er auf sechs frisch intubierten Covid-Patienten alleine an einem Tag. „Die werden mindestens drei Wochen künstlich beatmet mit ungewissen Folgen“, sagt der Chefarzt.
Manche Genesene kommen später mit neurologischen Problemen zurück in die Klinik
Nicht selten hätten die Patienten auch sechs Monate nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ihren Geruchs- und Geschmackssinn nicht wieder zurückerlangt. Ganz zu schweigen von den Konditionsschwächen. Einige kämen nach der Reha mit anhaltenden neurologischen Schäden wieder zurück in die Klinik.
Zwei normale Stationen in der Urologie und Chirurgie wurden zu Intensivstationen für Covid-Patienten umgebaut. Nach über einem Jahr Pandemie herrsche allgemeine Erschöpfung bei den Mitarbeitern im Krankenhaus. Auch der Zustand anderer Patienten, deren Operationen immer wieder verschoben werden, habe sich verschlechtert.
Kollum und seine Studienmitarbeiter wollen mehr über den gesamtgesellschaftlichen Schaden wissen, den das Virus verursacht. Die Beispiele von fitten Menschen, die durch Corona zu Invaliden wurden, mehren sich auch in der Region.
Bereits im Januar hat Elisabeth Balensiefen begonnen, die ersten Covid-Patienten aus dem Landkreis Konstanz zu befragen. „Wir hatten eine überwältigende Resonanz von Betroffenen, die an der Studie teilnehmen wollen“, erklärt die Assistenzärztin. Sogar Anrufer aus Hamburg oder Bayern hätten sich um die Teilnahme beworben.
„Schwieriger ist es, das jeweilige Pendant für die Kontrollgruppe zu rekrutieren. Wir brauchen noch etwa 130 Nicht-Infizierte in dieser Gruppe“, sagt Balensiefen. Diese Gruppe erhöht den Wert der Studie, weil sie Vergleiche der verschiedenen Lebensläufe ermöglicht. Die Studie ist anonymisiert. Nur die Forscher wissen, wie sich die Paare zusammensetzen. Die Teilnehmer sind zwischen 18 und 80 Jahre alt. Für die Kontrollgruppe werden noch Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 30, 50 und 65 sowie Männer zwischen 35 und 45 Jahren gesucht.
Studie kostet sechsstellige Summe
Die Studie, die sich bewusst auf den Landkreis Konstanz konzentriert, ist sowohl im deutschen als auch im internationalen Studienregister angemeldet. In einer weiteren Studie erforschen junge Wissenschaftler im Singener Klinikum den Zusammenhang von Covid und der Schlafkrankheit (Fatigue).
Obwohl die Probanden nichts für ihre Teilnahme bekommen, kostet die Forschung Geld. Hier kommt Heidi Zimmermann ins Spiel. Sie ist die organisatorische Leiterin des Studienzentrums Hegau Bodensee und kümmert sich um die Drittmittelbeschaffung. Das können Gelder aus Auftragsforschungen von Pharma-Firmen oder Medizinprodukteherstellern sein. Das können aber auch Spenden sein.
Mehrere junge Ärzte sind an der Studie beteiligt
Heidi Zimmermann koordiniert Termine mit den Probanden, die Abstimmung mit dem Labor und die Zusammenarbeit mit anderen Fachabteilungen. Zusammen mit ihrem Chef stellt sie Zuschussanträge zum Beispiel bei der Deutschen Forschungsgesellschaft. Alleine die Nachbeobachtungsstudie von Covid-19-Patienten im Landkreis Konstanz verschlingt eine hohe sechsstellige Summe.
Elisabeth Balensiefen will ihre Doktorarbeit nicht erst nach fünf Jahren abschließen. Die Landkreis-Studie wird in Abschnitte aufgeteilt, so dass mehrere junge Ärzte an der Forschung beteiligt sind. „Bei uns geht‘s nicht ums Geld, sondern um die akademische Würde“, sagt Studienleiter Marc Kollum. Nicht zuletzt ist das Singener Klinikum ein akademisches Lehrkrankenhaus.