„Wer bist du?“, fragt die 87-Jährige. Sie erkennt ihr Gegenüber nicht mehr. Dabei steht doch ihre Tochter vor ihr. Glaubt man den Schilderungen der alten Dame, müssten sich ihre Kinder gerade mal im Schulalter befinden. Aber ihre Tochter ist schon in Rente. Der innere Kalender der alten Dame scheint zurück gesprungen zu sein. Fünfzig, sechzig oder siebzig Jahre in die Vergangenheit. Ihre inneren Bilder stimmen nicht mehr mit der Realität überein.
Dies ist eine Situation, die Anton Funer, stellvertretender Geschäftsführer des Pflegedienstes Arjeta aus Rielasingen, darstellt. In ihrem Berufsalltag treffen die Schwestern und Pfleger von Pflegediensten immer wieder auf Menschen, deren Wahrnehmung durch eine Demenz verändert ist.
Corona-Krise verstärkt Probleme
Yvonne Marko, stellvertretende Pflegedienstleiterin bei den Johannitern in Singen, erläutert: „Je nach Schweregrad der Demenz erkennen die Betroffenen andere Menschen nicht mehr.“ Menschen mit einer leichten Demenz würden andere sofort erkennen. Sei die Demenz dagegen mittelschwer, werde das Gegenüber häufig erst beim dritten oder vierten Anlauf erkannt. Und Patienten mit einer schweren Demenz würden andere Personen gar nicht mehr erkennen. Im Alltag komme es immer wieder zu Verwechslungen.
Die geistigen Einbußen der Patienten werden durch die Corona-Krise verstärkt. Immer wieder wechselnde Vorschriften waren bereits für Menschen ohne Demenz häufig schwer nachvollziehbar. Um wie viel schwieriger muss es für demente Menschen sein, sich in einer Welt mit Mundschutzen und Abstandsregeln zurechtzufinden.
Inzwischen genug Schutzausrüstungen
Doch nicht nur die Patienten hatten ihre Probleme. Eine erste Hürde für die Pflegedienste bestand darin, Schutzausrüstungen zu besorgen. Senta Heiß von der Sozialstation St. Wolfgang in Engen berichtet: „Wir haben anfangs viele Firmen angeschrieben. Inzwischen hat sich die Lage entspannt.“
Die Pflegekräfte seien sogar nach Konstanz gefahren, um beim Landratsamt Mundschutze und Kittel abzuholen. Anton Funer erinnert sich an Wucherpreise für Desinfektionsmittel – und dass sie über Ebay-Kleinanzeigen nach Masken gesucht hätten: „Schließlich haben wir die Ausrüstung über einen Verband für Pflegedienste bekommen“.
Mundschutze erschweren die Arbeit
Eine zweite Hürde bestand darin, die Bestimmungen einzuhalten. Die meisten Patienten seien froh darüber. Es gibt jedoch Ausnahmen. So berichtete die Schwester, dass zwei ihrer Patienten darauf bestehen würden, ohne Maske gepflegt zu werden.
Auch würden die Mundschutze einschränken. „Wir schwitzen total darunter. Und wir bekommen schlecht Luft. Aber es muss halt sein“, fasst Yvonne Marko zusammen. Kein Wunder – man stelle sich vor, wie anstrengend es sein muss, mit Mundschutz einen Patienten im engen Badezimmer zu duschen.
Patienten hatten anfangs Angst
Melanie Jahnz, Leiterin des AKA (Ambulante Kranken-und Altenpflege)-Teams Engen erklärt: „Menschen mit einer beginnenden Demenz hatten anfangs eher Angst, wenn jemand mit Mundschutz kam. Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt.“ Schwierig sei, dass die Patienten keine Mimik hinter dem Mundschutz erkennen. „Man sieht nicht, wenn die Schwester lächelt“, so Jahnz.
Inzwischen kehre eine gewisse Normalität in die absurde Corona-Welt ein. Man habe gelernt, sich an die Regeln zu halten. Und nach einigen Wochen mit verhaltener Nachfrage werden die Pflegedienste nun wieder vermehrt in die Haushalte gebeten.
Die Nachfrage
Senta Heiß, Pflegedienstleiterin von der Sozialstation St. Wolfgang in Engen, sagt: „Die Nachfrage war gleichbleibend, aber etwas verhalten.“ Die Patienten, die dringend auf Pflege angewiesen sind, hätten die ambulante Pflege weiter in Anspruch genommen. Kleinere Hilfen, vor allem Hilfen im Haushalt, wurden eher privat organisiert.
Eher weniger wurde dagegen die ambulante Pflege der Johanniter in Singen in Anspruch genommen. Erich Scheu, Leiter der Unfallhilfe, schätzt die Auslastung in den vergangenen Wochen auf 70 Prozent. Yvonne Marko, stellvertretende Pflegedienstleitung der Johanniter, kennt den Grund: „Angehörige hatten Angst, dass das Personal das Coronavirus ins Haus bringt.“ Derzeit nehmen die Aufträge bei den Johannitern jedoch wieder zu und haben schon fast den ursprünglichen Stand erreicht.
Eher eine Zunahme der Auftragslage erlebte Melanie Jahnz, Leiterin des AKA-Teams in Engen: „Wir haben während den turbulenten Corona-Wochen keine einzige Absage erhalten.“ Die steigende Nachfrage führt sie darauf zurück, dass die Krankenhäuser ihre Patienten möglichst schnell entlassen haben, um freie Plätze für Covid-19-Patienten zu haben. Außerdem wären verschiedene Angebote wie Tagespflegegruppen ausgefallen.