Inmitten von Krieg in Europa, Energiekrise, Pandemie und Inflation in Operetten- und Walzerseligkeit schwelgen? „Freunde, das Leben ist lebenswert“ – das Motto, das die Südwestdeutsche Philharmonie ihrem Neujahrskonzert im Radolfzeller Milchwerk voranstellte, sollte vor allem eines bewerkstelligen: Hoffnung machen auf ein friedlicheres Jahr, dem man die schönen Momente abgewinnen muss. Denn die Operette lebt zwar – ganz konform mit dem gesellschaftlichen Kontext ihrer Entstehungszeit – von Spannungen, Konflikten und deren Konsequenzen. Dies aber oft mit ironischer Brechung und meist mit Happy End. Und davon träumt die heutige Welt natürlich auch.
Mit voller Kraft beschwingt ins neue Jahr
So startete das Orchester denn gleich auch mit voller Kraft: „Bahn frei“ hieß die flotte Polka von Eduard Strauß, die mit schrägen Pfeifen, heiseren Tröten und lauten Klatschern die Musik in ein wahres Klanggetümmel stürzte. Erst der Bahnhofsvorsteher, alias Dirigent Gabriel Venzago, musste mit schriller Trillerpfeife Ordnung schaffen!
Ebenso beschwingt und mit einer guten Portion Humor führte Intendantin Insa Pijanka durch das Programm und gab zu den Stücken lehrreiche und witzige Anekdoten am Rande zum Besten. In der Annen-Polka aus der Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“ schlingerte Sopranistin Jaclyn Bermudez gekonnt beschwipst auf die Bühne und drückte dem Dirigenten gleich auch ein Glas Champagner in die Hand.
Die gute szenische Umsetzung kostete zwar einiges an Textdeutlichkeit, sorgte aber für begeisterten Applaus beim Publikum im ausverkauften großen Saal des Milchwerks. Und auch das Duett, zusammen mit Bariton Äneas Humm, verzauberte mit schmachtender Melodie. In „Komm mit mir ins Chambre Separée“ aus der Operette „Der Opernball“ von Richard Heuberger spielte und sang das Duo das verliebte Paar hinreißend.
Zuvor gab es die Ouvertüre zur gleichen Operette, und die Philharmonie bewies, wie sicher sie auch im walzerigen Dreivierteltakt ist. Zumal Dirigent Venzago sie vehement mit ganzem Körpereinsatz präzise anwies. Ebenso überzeugend gestaltete das Orchester das Quodlibet aus „Im weißen Rößl am Wolfgangsee“, wo Bariton Humm den Titelsong interpretierte. Mitsummen konnte man die bekannten Lieder: „Schau mich bitte nicht so an“, „Wer soll das bezahlen“ oder „Auf Wiedersehn“.

Neuer Chefdirigent stellt sich vor
Abschied aber gab es noch lange nicht, denn Dirigent Gabriel Venzago wandte sich erst einmal ans Publikum: „Für Sie ist das heute ein ganz normaler Start in ein neues Jahr. Aber für mich ist er schon etwas Besonderes: Ab dem 1. Januar darf ich mich nämlich Chefdirigent dieses wunderbaren Orchesters nennen“. Und das zauberte denn auch den Musikerinnen und Musikern ein Lächeln in die Gesichter, die sonst beim Verbeugen stets konzentriert und ernst ins Publikum schauen.
Schmissig und voller Schwung kam Carl Maria von Webers „Aufforderung zum Tanz“ daher. Mit Wechseln vom feinen Solo-Cello-Beginn zum zackigen Thema, vom zarten Walzer bis hin zum wüsten Orchester-Finale legte Venzago Wert auf abwechslungsreiche Dynamik, und er musste beim Trugschluss das Publikum vom vorzeitigen Applaus zurückhalten. Denn das Cello darf noch einmal zum Ausklang aufspielen und die Verabschiedung erfolgt im innigen Piano. In der Pause durfte das Publikum in diesem Jahr wieder mit Sekt auf das neue Jahr anstoßen, denn Bewirtung war im letzten Neujahrskonzert nicht möglich.
Fast ist er zur österreichischen Nationalhymne avanciert: Der Walzer „An der schönen blauen Donau“ – und Insa Pijanka las Statistiken vor, die bewiesen, dass die Farbe der Donau in keinem Jahr jemals blau gewesen sei . . . Aber hier wie auch in jedem Wiener Walzer täuscht wohl die Champagner-Stimmung die Wahrnehmung. Besinnlich wurde es kurz, als Bariton Äneas Humm das innige „O du mein holder Abendstern“ aus Richard Wagners Oper Tannhäuser sang. Er demonstrierte die schöne, klangvolle Tiefe seiner Stimme, die aber in der Höhe manchmal leicht angestrengt wirkte.
Doch sogleich rissen die Melodien aus Franz Lehárs Operette „Giuditta“ das Publikum wieder aus nachdenklicher Stimmung: „Meine Lippen, sie küssen so heiß“ sang Sopranistin Bermudez im roten Glitzerkleid mit strahlendem Timbre in der hohen Lage. In mittleren und tiefen Lagen aber hätte das Orchester noch mehr Zurückhaltung üben müssen, um die Stimme nicht zuzudecken.
Eine Hommage an Wien und an den Walzerkönig Strauß schrieb Erich Wolfgang Korngold mit seiner „Straussiana“, in der die Philharmonie die Pizzicato-Polka, Mazurka und Walzer schön differenziert vorstellte. Natürlich durfte der Champagner-Walzer mit echtem Korkenknallen nicht fehlen und der Radetzky-Marsch war selbstverständlich die erste der Zugaben.
Marsch mit ganz viel Heimatstolz
Eine besondere, letzte Zugabe kündigte der Dirigent an: Komponist Enjott Schneider hat den Marsch „Am Bodensee“ von Wendelin Kopetzky für die Südwestdeutsche Philharmonie mit Lokalkolorit vom See für Sinfonieorchester bearbeitet. Die Uraufführung weckte große Begeisterung beim Publikum, und Venzago versprach die baldige Aufnahme auf CD.