11 Uhr, Konstanz, Deutschland: Sie haben schon immer zusammen gefeiert. Die Schwestern Susanna, Tirza und Nike. Dass die Fete ausfällt, habe nie zur Debatte gestanden, sagt Susanna Heil. Nicht, als klar war, dass sie Tirza über einen Bauzaun hinweg würde beglückwünschen müssen. Nicht, als am Freitag, einen Tag vor Tirzas Geburtstag, wortkarges Schweizer Militär über den akkurat gestutzten Rasen im Park Klein-Venedig marschierte und neben den deutschen Maschendraht einen eigenen Zaun stellte. Ausgerechnet an der Kunstgrenze, dem Symbol für die Einigkeit der deutschen Stadt Konstanz und der Schweizer Stadt Kreuzlingen. Dazwischen sind nun zwei Meter Niemandsland, Betreten verboten. Wegen Corona.

Dann eben Party mit zwei Metern Abstand. Am Morgen schneidet Susanna Heil in Konstanz Käsekuchen in kleine Rechtecke. Extra cremig mit viel Philadelphia. Da weiß sie noch nicht, dass ihre Schwestern auf der Schweizer Seite das cremig-süße Gebäck nicht werden kosten können.
Er suchte einen Ort, an dem er sie berühren kann
13.30 Uhr, Arbon, Schweiz: Domi steigt in die Bahn nach Kreuzlingen. 40 Minuten Zugfahrt und 15 Minuten Fußweg trennen ihn von Isa. Eigentlich wollten sie sich an der Kunstgrenze treffen. In dem zauberhaften Park am See, Sonnenschein, was könnte es Schöneres geben für ein junges Paar? Domi ist 19 Jahre alt, er trägt eine runde Brille, schwarze, halblange Haare umrahmen sein liebes Gesicht. Als er von dem zweiten Bauzaun gehört habe, der die Paare auf Abstand zwingt, habe er recherchiert, sagt er. Nach einem Ort, an dem er Isa berühren und in den Arm nehmen kann. Als er an diesem Nachmittag in die Bahn steigt, ist er nicht sicher, ob der Plan funktioniert.

14 Uhr, Kunstgrenze, Konstanz: Trotz doppeltem Maschendraht lehnen und hocken sich Dutzende gegenüber: Verwandte, Freunde, Paare. Eine Gruppe sticht heraus. Sie tanzen zwischen grünen, gelben und roten Luftballons. Der Song „Follow me“ dröhnt aus einem Smartphone. Es sind drei Personen auf deutscher, drei auf Schweizer Seite. Mit Sekt in der Hand und Sonnenbrillen auf dem Kopf sind sie die Blaupause für sorgenfreie Fröhlichkeit an einem Sommertag. Es ist die Geburtstagsparty von Tirza Heil. „Der Zaun kann uns nicht trennen“, ruft Tirza, als sie nach Konstanz prostet läuft ein wenig Schaum über ihr Sektglas.
Fünf Gäste, normalerweise viel mehr
Mit dabei sind Susannas Freund Mike und eine gute Freundin – mit eigener Decke in zwei Metern Entfernung. Auf der Kreuzlinger Seite stehen Tirza und Nike mit einer Freundin. „Wir leben im gleichen Haushalt“, ruft Tirza und drückt die junge Frau an sich. Deshalb ist der enge Kontakt für die Polizisten in Ordnung, die auf beiden Seiten patrouillieren. Tirza sagt: „Als ich die Feier geplant habe, habe ich auf die Abstandsregeln geachtet. Ich finde es sinnvoll, da müssen wir durch. Deshalb sind es nur fünf Gäste, normalerweise lade ich viel mehr ein.“
Auch der Kuchen muss auf der deutschen Seite bleiben. „Man darf nichts herüberreichen, es kostet Strafen ab 100 Franken aufwärts“, sagt Susanna, „davor hat man uns sehr gewarnt.“
Gerücht: Hohe Strafen für Geschenke über den Zaun
Nichts herüberreichen, nicht einmal ein Geschenk? Gerüchte kursieren in der Stadt Konstanz von der neuen Rigorosität der Schweizer Zöllner. Man sagt, dass eine Frau ihrer Freundin ein Krebsmedikament geben wollte, das von den Beamten kassiert worden sei. Ein Schweizer sollte angeblich Strafe zahlen, weil er ein Alnatura-Brot für drei Euro von einem Konstanzer Bekannten über den Bauzaun hinweg annahm.


Auf Presseanfragen dazu antwortet der Schweizer Zoll schnell und äußerst freundlich, nur die Auskunft selbst ist recht dünn. „Die Eidgenössische Zollverwaltung (EZV) hat die Möglichkeit, Personen zu büssen, die sich den behördlichen Anordnungen wiedersetzen, in dem sie (...) Waren in die Schweiz verbringen.“ Gehören dazu auch Kuchen oder ein kleines Geschenk? Der Zivilschutz Kreuzlingen rät, selbst bei den Beamten vor Ort zu fragen.
Eine Frau weint, auf Deutscher Seite hat ein Bundespolizist Mitleid
15 Uhr, Grenzübergang Emmishofer Tor: Über eine etwa fünf Meter breite Absperrung lehnen sich Paare und Familien, eine Frau weint. Auf deutscher Seite wacht ein Bundespolizist mit raspelkurzem Haar über die Einhaltung der Regeln: Eineinhalb Meter Abstand rechts und links, keine Warenübergabe. „Es sind schon herzzerreißende Szenen hier“, sagt er.

„Am besten, Sie fragen die Schweizer!“
Trotzdem, es muss sein. „Wie sieht es denn aus, Herr Beamter, darf man wenigstens ein kleines Geburtstagsgeschenk, Brot oder ein Stück Kuchen über die Grenze reichen?“ „Naja“, sagt er und zögert. „Am besten, Sie fragen die Schweizer.“ Die stehen keine zehn Meter weiter.
Zwei Grenzwächter mit dunklen Sonnenbrillen. „Entschuldigung, können Sie mir sagen, ob man einem Freund ein kleines Geburtstagsgeschenk, Brot oder ein Stück Kuchen über die Grenze reichen darf?“ Knapp fällt die Antwort aus: „Keine Waren.“ „Und was, wenn man es trotzdem macht?“ „100“, antwortet einer der beiden und wendet sich ab. 100 Franken. Die Gerüchte stimmen.

Gefunden!
15.30 Uhr: Es hat geklappt. Der Ort, den der 19-jährige Domi online gefunden hat, existiert. Dort liegt er mit Isabell im Gras. Zwischen ihnen ragt ein grobmaschiger Zaun auf, um den rot-weißes Absperrband im lauen Wind flattert. Im Vergleich zur Grenze auf Klein-Venedig wirkt das Konstrukt provisorisch. Die Zugfahrt aus Arbon hat sich für Domi gelohnt.
Ein wenig Intimität ist hier möglich
Das junge Paar ist nicht allein: Vier Menschen sind auf Isabells Seite des Zauns in Konstanz, vier auf Domis Seite in Kreuzlingen. Ganz offensichtlich alles Paare. Dieser Ort mag weniger idyllisch als die Wiese an der Kunstgrenze sein, Verkehr im Rücken und Blick auf ein graues Verwaltungsgebäude. Dafür ist hier möglich, was der meterhohe Doppelzaun auf Klein-Venedig verhindert: ein wenig Intimität. Isabell hat ihre Hand durch den grobmaschigen Zaun gesteckt, nach Kreuzlingen. Domi umschließt sie fest. In einigem Abstand hinter ihm blicken zwei Schweizer Militärs in Tarnhosen und Tarnmütze auf die Szenerie. Sie nähern sich nicht.

16 Uhr, Kunstgrenze: Der Konstanzer Roland Benker ist mit seinem Kumpel Vincent O'Brien zum Spaziergang aufgebrochen. Am Yachthafen erinnert er sich an das Jahr 2006. Am 16. August wurde der Grenzzaun im Gebiet Klein-Venedig zwischen Konstanz und Kreuzlingen entfernt, der Oberbürgermeister persönlich schnitt den Zaun auf. Wenige Monate später entwarf der Künstler Johannes Dörflinger aus der Schweiz 22 acht Meter hohe Skulpturen. Diese sollten fortan den Grenzverlauf markieren, als erste Kunstgrenze Europas. Bei der Einweihung sagte Dörflinger: „Die Kunstgrenze war nur zum jetzigen Zeitpunkt möglich. Alles hat gepasst: Der besonders gute Draht der beiden Bürgermeister zueinander, die Annäherung der Schweiz an Europa, das Denken in Symbolen, das heute viel ausgeprägter ist.“


Und heute? Die Schweizer kaufen in Konstanz ein, manche Konstanzer arbeiten in der Schweiz. Die Städte teilen sich die Gasleitungen, arbeiten auch politisch in der Grenzlandkonferenz zusammen. Klar, es gibt mehr zwischen Berufspendlern und Paaren. Auch Feindseligkeit. Manche Konstanzer freuen sich, dass die Supermärkte so leer sind, jetzt, wo die Schweizer dort keine Monatseinkäufe mehr tätigen. Der ein oder andere Schweizer soll gesagt haben, dass die Grenze ruhig zubleiben könne. Doch das ist nicht die Mehrheitsmeinung.

Die Mehrheit lebt den Gedanken offener Grenzen. Wie die Heil-Schwestern, die im Park Klein-Venedig Geburtstag feiern. „Ich arbeite gerne in Kreuzlingen und mag meine Wohnung dort, doch Konstanz ist meine Stadt“, sagt Tirza Heil. Susanna wohnt mit Tirza und Nike in der Schweiz. Nur: Eine von ihnen musste rüber, um auf Tirzas Pferde aufzupassen, die in Deutschland stehen. Die drei Schwestern sind in Thüringen aufgewachsen. Die Älteste, Tirza, erinnert sich an Spaziergänge an der Grenzabsperrung als Kleinkind. „Ähnlich wie dieser Bauzaun hier. Ich fragte meine Mama immer, warum ich nicht rüber darf, und sie sagte: ‚Tirza, da wirst du niemals rüberkommen.‘“
Stundenlang Händchen-Halten
18 Uhr: Domi und Isa, das junge Paar, liegen noch immer im Gras. Stundenlang einfach nur Händchen-Halten. Die Krisen-Situation gibt dieser Geste eine besondere Bedeutung. Die beiden 19-Jährigen sind seit vier Wochen verliebt, haben sich vor dem Shutdown wenige Male gesehen. „Wir haben uns online kennengelernt“, sagt Domi, „eine Woche später waren wir zusammen.“
Zivilschützer mit Herz aus Gold
Über das Treffen am Zaun wird er wenige Tage später sagen: „Wir fanden es sehr schön, dass mehrere Zivilschützer ein Herz aus Gold hatten und uns und die anderen Paare in Ruhe unsere emotionalen Momente genießen ließen.“ Beide fänden es gut, dass die Regierungen Corona eindämmen wollten. Nur, fragt Domi: „Warum dürfen alle, die ihren Partner oder ihre Familie im gleichen Land haben, ihn weiterhin sehen und küssen, aber wir nicht? Ich würde mich nicht mit meiner Freundin treffen, sofern ich, sie oder jemand aus unserem engen Umkreis krank wären.“ Doch solange das nicht der Fall sei, habe man da nicht das gleiche Recht wie Andere, den geliebten Menschen zu sehen?
Abrupte Trennung ohne Abschied
Um 19 Uhr trennt ein neu hinzugekommener Schweizer Polizist das Paar. So erzählt es Domi später. Alle am Grenzzaun hätten sofort aufbrechen müssen. Ohne Abschied. „Irgendwann werden wir uns mehr an der Grenze sehen, als wir uns überhaupt schon gesehen haben. Oder vielleicht gar nicht mehr, falls nun überall eine doppelte Umzäunung kommt“, schreibt er. Denn: Es tue zu weh, dem anderen so nah zu sein, ihn aber nicht berühren zu können. „Es fällt mir immer schwerer, sie so zu sehen.“ Die Krise werde die beiden nicht trennen, da ist er sich sicher. „Egal, wie lange sie anhält.“
Nur: Wie lange hält sie noch an?