Das Forschungshandy auf dem Tisch von Anne Ganzert gibt ein Geräusch von sich. Wenn sie wollte, könnte die Medienwissenschaftlerin jetzt das Taubsi fangen, ein vogelähnliches Wesen aus der Spiele-App Pokémon Go, das hinter dem Fenster ihres Büros in der Uni Konstanz durch das Gras hüpft. Zu sehen natürlich nur auf dem Smartphone. Aber Ganzerts Beschäftigung mit Pokémon Go ist vor allem theoretischer Natur. Sie gehört zu einer Gruppe von Forschern, die jetzt ein Phänomen untersuchen, das vor einigen Monaten die Menschen in zwei Lager spaltete: Die einen liefen auf der Jagd nach virtuellen Monstern nur noch mit gesenkten Köpfen herum, die anderen schüttelten ratlos das Haupt. Abgeschottet kamen ihnen die Menschen vor, die beim Spaziergang durch ihre Stadt in der Pokémon-Welt versanken.
Aber sind die Spieler wirklich so isoliert? Oder gibt es noch ganz andere Formen von Gemeinschaft, als die mit Menschen in der direkten Umgebung? Solche Fragen stellen sich Ganzert und ihre Kollegen. In der Forschungsgruppe "Mediale Teilhabe" der Deutschen Forschungsgemeinschaft untersucht das Teilprojekt Smartphone-Gemeinschaften der Medienwissenschafts-Professorin Isabell Otto schon seit 2014 verschiedene Apps und Plattformen.
Dabei geht es um die Frage, wie sich durch den Informationsaustausch mit dem Smartphone Gemeinschaften bilden können. "Es ist immer schnell von Community, also von Gemeinschaft die Rede", sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin Ganzert. "Wir fragen, ob es sich wirklich um Gemeinschaft handelt und wie sie sich äußert." Aktuell nehmen die Medienwissenschaftler auch die Teams (Spielergruppen) bei Pokémon Go in den Blick. Zunächst sei dort wenig Gemeinschaftlichkeit zu beobachten: "Pokémon Go spiele ich mit vielen gleichzeitig, aber nicht mit anderen zusammen", sagt Ganzert. Denn jeder Spieler sei vor allem mit seinem Smartphone vereint. Während er durch die Stadt läuft, folgt er auf dem Bildschirm seinem Avatar, seiner Spielfigur, durch ein virtuelles Straßennetz. Anders als bei Playstation-Spielen, die zu Hause gespielt werden: "Dabei können Spieler sich in Gilden organisieren und ein gemeinsames Ziel ansteuern", sagt Ganzert. Die drei weltweiten Teams bei Pokémon Go seien hingegen vorstrukturiert, Koordination in der Gruppe sei wenig möglich. "Der Spieler gehört einem Team an, spielt aber trotzdem nur für sich", beobachtet Ganzert. Die Avatare der Anderen sind auf dem Bildschirm nur bei den Arenen an zentralen Plätzen in der Stadt zu sehen. Und selbst dort nicht in Aktion, denn wenn es zum Kampf kommt, dann nur zwischen Pokémon.
Diese rein medienwissenschaftliche Sicht muss sich nicht unbedingt mit dem Erleben der Spieler decken. Die Studentin Julia Kohushölter etwa fühlte sich bei der Jagd nach Pokémon im Sommer keineswegs einsam. "Für mich hatte Pokémon Go etwas sehr Gemeinschaftliches", sagt sie. Mit ihrem Freund war sie vor allem im Stadtteil Paradies und am Seerhein unterwegs. Dabei empfand sie "eine unheimliche Gemeinschaft der Pokémon-Spieler". Zum Beispiel im Hérosepark: "Man hat sich dort einfach zusammengesetzt, auch wenn man sich vorher nicht kannte", erzählt sie.
Die Forscher hingegen haben eine ganz andere Art von Gemeinschaft festgestellt. Eine sehr abstrakte: "Wenn ich zu einer Arena gehe, zum Beispiel zur Imperia im Konstanzer Hafen, war ein Spieler vor mir da und hat ein Pokémon dagelassen", beschreibt Ganzert. "Ich weiß nicht, wer es war, aber ich weiß, er ist hier gewesen." Auf diese Weise entstehe ein "Prozess der Vergemeinschaftung", wie es im Fachjargon heißt. Personen müssen dafür gar nicht erst zur selben Zeit am selben Ort sein. Für die Fachleute lässt sich das sogar noch weiter treiben: "Ohne das Vorgängerspiel Ingress gäbe es die Arenen und Pokéstops nicht, an denen sich wichtige Spielsituationen abspielen. Die meisten Orte wurden daraus übernommen", sagt Ganzert. Daraus folgt für die Forscher eine Vergemeinschaftung der Pokémon-Spieler mit den Ingress-Spielern und sogar, soweit lässt es sich spannen, mit Nichtmenschlichem wie Google Maps oder dem GPS-Satellitensystem.
Das alles streift philosophische Bereiche. Aber den Bezug zur Umwelt, findet Ganzert, verliere weder der Wissenschaftler noch der Pokémon-Spieler. "Durch die Überlagerung der Grafikanimation auf dem Smartphone mit der Wirklichkeit nimmt der Spieler seine Stadt ganz neu wahr", sagt Ganzert. "Das Spiel leitet Nutzer durch die Pokéstops und Arenen zu vielen Denkmalen, die sie zuvor nie beachtet haben." Dazu hatte sie ein ganz persönliches Erlebnis: "Wenn ich zum Bäcker gehe, sehe ich immer den Löwenbrunnen in Wollmatingen. Durch Pokémon Go habe ich erst bemerkt, dass es sich um ein Kriegsgefallenendenkmal handelt."
Das sieht Spielerin Julia Kohushölter ähnlich: "Klar ist meine Wahrnehmung der Umgebung gefiltert, wenn ich Pokémon fange. Aber auf jeden Fall habe ich beim Spielen Konstanz besser kennengelernt und war viel mehr in der Stadt unterwegs."
Spiel und Monster
- Pokémon Go ist eine App für Smartphones und wurde im Juli 2016 veröffentlicht. Die Jagd nach kleinen Monstern mithilfe von GPS-Daten erreichte im Sommer eine große Beliebtheit. Weltweit gab es 30 Millionen tägliche Nutzer. Zentral für das Spiel sind Pokéstops und Arenen, die oft in der Nähe von Sehenswürdigkeiten sind.
- Pokémon (kurz für Pocket Monsters, Taschenmonster) sind Fantasiewesen. Es gibt sie auch im Fernsehen als Anime zu sehen oder im Comic, sogenannte Mangas.