Es ist 8.15 Uhr, als Nadja Götz das sechste Mal in eine fremde Wohnung geht. „Hallo?“ Sie öffnet die Tür zum Schlafzimmer, schaltet das Licht an. Keine Reaktion. Niemand drin. Im Wohnzimmer findet sie die ältere Dame, die sie gleich pflegen wird. „Sie sind ja schon wach!“, sagt Götz und streichelt sie am Arm. „Gut geschlafen?“

Pflegerin, Seelentrösterin und Freundin

Nadja Götz ist eine von elf ambulanten Pflegefachkräften der Christlich Ambulanten Pflege. Bevor es 12 Uhr ist, wird sie 15 Patienten in Schwenningen, Dauchingen und Weilersbach versorgt haben.

Sie wird sie waschen, duschen, frisch anziehen und mit Medikamenten versorgen. Sie wird ihnen helfen, die Windeln zu wechseln, ihre Kompressionsstrümpfe anzuziehen und ihre Blutzuckerwerte messen.

Nadja Götz misst die Blutzuckerwerte und die Sauerstoffsättigung im Blut bei einem Patienten.
Nadja Götz misst die Blutzuckerwerte und die Sauerstoffsättigung im Blut bei einem Patienten. | Bild: Daniela Biehl

Doch sie wird auch Seelentrösterin und Freundin sein. Es sein müssen. Denn: „Viele Patienten sind einsam. Und wir sind oft der einzige Kontakt, den sie am Tag haben“, sagt Götz.

Das Smartphone registriert alles

Während der Fahrt von einem Patienten zum nächsten wird sie im Auto innehalten. Sich sammeln. „Dieser Moment gehört nur mir“, sagt Götz später. Dieser Moment, in dem sie abschalten, sich nicht von ihrem eng getakteten Tourenplan stressen lassen muss. Und dieser Moment, bevor sie auf ihr Smartphone schaut, den Zündschlüssel dreht – und weiterfährt.

Denn: Ihr Smartphone ist eigentlich so etwas wie ihr Tages- und Dokumentationsplan. Alle Patienten, die sie ansteuern muss, alles, was es auf dieser Tour zu tun gibt, ist darin vermerkt. Ihr Smartphone registriert auch, wie lang sie bei wem war – und wie lang sie für welche Leistung gebraucht hat.

Ohne Smartphone geht gar nichts: Darin vermerkt Götz, wie lang sie bei welchem Patient war und was es dort zu tun gab.
Ohne Smartphone geht gar nichts: Darin vermerkt Götz, wie lang sie bei welchem Patient war und was es dort zu tun gab. | Bild: Daniela Biehl

Das ist wichtig: für die Abbrechung mit den Krankenkassen. Wirkt aber seltsam mathematisch: Auf der einen Seite die Menschen, die alt und gebrechlichen sind. Die Hilfe brauchen. Und Zuwendungen. Und auf der anderen Seite: Die Zahlen, Minuten und Stunden, die finanziell abgerechnet werden müssen. Und das stresst, sagt Götz.

Jeder Handgriff sitzt

Doch: Noch ist sie die Ruhe selbst. Noch ist es 8.15 Uhr. Und noch führt Götz die Seniorin ins Bad. „Dann wollen wir Sie mal duschen und schick machen“, sagt Götz, lässt Wasser in eine Wanne laufen, um die Temperatur zu testen. Hilft ihr auf den Wannensitz, braust sie ab und wäscht ihr die Haare. Jeder Handgriff sitzt, Götz weiß genau, wo in der Wohnung der älteren Frau, welches Hilfsmittel zu finden ist.

Die ältere Dame schüttelt den Kopf.

„Sind Ihre Ohren nass geworden? Wollen wir die Ohren föhnen?“, scherzt Götz. Und die Seniorin lacht. Nein, die Ohren wollen nicht geföhnt werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Später wird Götz sie noch frisieren, ihr Medikamente geben und ihr helfen, die Treppen herunterzusteigen, um im Keller die Waschmaschine anzustellen. Doch jetzt wird, zwischen all den Aufgaben, ein bisschen geneckt, ein bisschen geplaudert. So viel Menschlichkeit muss sein.

31,42 Euro für 30 Minuten Körperpflege

Für die große Körperpflege, die Götz gerade macht, kann der Pflegedienst 31,42 Euro abrechnen. Hilft sie Patienten nur aus dem Bett und beim An- und Auskleiden sind es 11,19 Euro. Aber das Abrechnen von Leistungen ist kompliziert. „Für die große Körperpflege hat man 30 Minuten Zeit“, sagt Götz. „Wenn man jemandem die Kompressionsstrümpfe anzieht, sind es sieben Minuten.“

Kompressionsstrümpfe oder auch ein Kompressionsverband (wie hier) schützen die Patienten vor Blutgerinnseln. Bei diesem Patienten ...
Kompressionsstrümpfe oder auch ein Kompressionsverband (wie hier) schützen die Patienten vor Blutgerinnseln. Bei diesem Patienten wickelt Nadja Götz einen Verband. Das sei für seine empfindliche Haut schonender als Kompressionsstrümpfe, sagt sie. | Bild: Daniela Biehl

Braucht sie mal länger, ist das kein Problem. Doch wenn es ständig passiert, kann der Pflegedienst nicht mehr kostendeckend arbeiten. „Die Kassen finanzieren nur die Vorgabezeit“, weiß Götz.

Zwischen Anstrengung und Dankbarkeit

Über ihren Job sagt sie: „Das ist körperlich anstrengend.“ Sie sagt aber auch: „Du kriegst unheimlich viel zurück. So viel Liebe und Dankbarkeit.“ Götz habe den Job gewollt. Immer schon. Seit sie vor zwölf Jahren, mit 16, ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Pflege machte.

Und trotzdem ist sie vor drei Jahren von der Altenpflege im Heim in den ambulanten Dienst gewechselt, weil die Belastung und der Zeitdruck zu groß waren. Weil sie das Gefühl hatte, sich bei all den Patienten – die oft gleichzeitig Hilfe brauchten – „zerteilen zu müssen“.

Bevor eine Tour losgeht richtet Nadja Götz im Haus der Christlich Ambulanten Pflege die Medikamente, mit denen sie die Patienten versorgt.
Bevor eine Tour losgeht richtet Nadja Götz im Haus der Christlich Ambulanten Pflege die Medikamente, mit denen sie die Patienten versorgt. | Bild: Daniela Biehl

Seit Jahren schon klagt die Pflege über schlechte Arbeitsbedingungen, über die tickende Uhr im Hintergrund – über Nachwuchsprobleme und den Fachkräftemangel. Auch Götz sagt: „Wenn bei uns zwei Pflegekräfte ausfallen, schaffen wir die Touren nicht mehr.“

Zehn Hauswirtschafts- und elf Pflegefachkräfte versorgen bei der Christlich Ambulanten Pflege 180 Senioren. Meist täglich.

Das könnte Sie auch interessieren

Nach Zahlen des Statistischen Landesamtes von 2020 – aktuellere Erhebungen gibt es nicht – wurden im Schwarzwald-Baar-Kreis 21,3 Prozent der Pflegebedürftigen (2139 von 10.047 Menschen) ambulant versorgt. Von 19 Pflegediensten.

Die Pflege in Zahlen

Götz ist inzwischen weitergefahren, die Fahrt war kurz, auf die Distanz genau abgestimmt. Sie parkt ihren Wagen in einer ruhigen Straße in Dauchingen, zieht die Handbremse fest und zückt einen Schlüssel. Von fast jedem Patienten hat sie einen Wohnungsschlüssel. „Allein schon für Notfälle“, sagt sie.

15 Patienten versorgt Götz an diesem Tag in Schwenningen, Dauchingen und Weilersbach.
15 Patienten versorgt Götz an diesem Tag in Schwenningen, Dauchingen und Weilersbach. | Bild: Daniela Biehl

Die nächste Patientin sei ein schweres Schicksal. Eine 91-jährige, deren Mann vor einem Jahr verstorben sei. „Ihn vermisst sie sehr“, sagt Götz. „Eigentlich will sie auch nur noch sterben.“

Und kaum hat Götz ihr aus Bett geholfen, sie frisch gemacht und ihr die Haare gekämmt, da zeigt die 91-Jährige auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Ein Bild ihres Mannes.

„Meine große Liebe“, sagt sie. Wie so oft schon. Wenn Götz da war. „Da kommen so viele Erinnerungen hoch“, sagt sie, zitternd, bebend, nach Halt suchend.

„Mit dem Schmerz ist niemand allein“

Nadja Götz streicht ihr über den Arm. „Ich weiß.“ Ihre Stimme klingt wie ein warmer Mantel, der sich um 91-Jährige legt. „Ich sage meinen Pflegeschülern immer: Es ist in Ordnung, wenn ihr bei den Leuten weint. Wenn man den Patienten zeigt, mir geht das auch nahe“, sagt Götz. „Mit dem Schmerz ist niemand allein.“

Den Job in der Pflege macht Nadja Götz gern. Sie sagt: „Du kriegst unheimlich viel zurück. So viel Liebe und Dankbarkeit.“
Den Job in der Pflege macht Nadja Götz gern. Sie sagt: „Du kriegst unheimlich viel zurück. So viel Liebe und Dankbarkeit.“ | Bild: Daniela Biehl

Vieles an der Pflege belaste auch. Erst vor kurzem starb die Frau eines anderen Patienten. Als Götz am Abend nach ihr sah, merkte, wie schlecht es ihr ging, den Arzt rief und sie zum Abschiednehmen herrichtete – da dachte sie nur noch an eins: „Du gehst jetzt und das könnten ihre letzten Stunden sein.“ Die Frau war nicht allein. Und doch habe es sich seltsam angefühlt, in den Feierabend zu gehen.

Der Applaus ist längst verstummt

Gerade deswegen, weil die Pflege so viel mehr sei, als Waschen, Duschen, Anziehen.

Weil der Applaus, den es zu Beginn der Corona-Krise gegeben hatte, längst verstummt ist. Weil aus den Versprechen von damals kaum etwas geblieben ist, so Götz. Gerade deswegen ist ihr Wunsch eigentlich bescheiden: Von der Politik und den Kassen wünscht sie sich mehr Zeit. Für die Patienten – und mehr Personal.

Das könnte Sie auch interessieren

„Echte Wertschätzung ist nicht nur in Krisenzeiten da“, sagt sie.

Rückmeldung an den Autor geben