Hannes Schultheiss

Fast schon im Jahresrhythmus scheinen sich böse Geister aktuell anzuschicken, Europa heimzusuchen. Beim Seuchen-Wiedergänger Corona haben wir wohl vor allem Pech. Andere Geister, etwa der des Krieges, werden hingegen heraufbeschworen – aktuell von einem völkischen Ideologen im Kreml.

Andere Geister waren nie ganz weg. So etwa der Antisemitismus, seit zwei Jahren wieder für alle deutlich sichtbar: auf der Videoplattform YouTube, in Telegram-Gruppen und auch auf den Straßen. Um einen wachsenden Judenhass im Zusammenhang mit Corona-Protesten ging es bei der diesjährigen Demokratiekonferenz der Singener Kriminalprävention (SKP) mit dem Politikwissenschaftler Robert Ogman. Nach einer Begrüßung übergab ihm Marcel Da Rin, Leiter der SKP, das Wort.

Was Menschen für Verschwörungstheorien anfällig macht

Zum Einstieg ging es im weiteren Sinne um psychologische Mechanismen, die dazu führen, dass sowohl bildungsferne als auch bildungsnahe Personen für Verschwörungstheorien empfänglich sind. Am Fall der Corona-Pandemie führte Ogman aus, dass dahinter vor allem Überforderung und Kontrollverlust stehen. Eine Offenheit für „Fake News“ (Falschmeldungen) und das Abdriften in gesellschaftliche Blasen, in denen solche Falschmeldungen zirkulieren, sind somit oft das Ergebnis von Selbstschutzmechanismen.

In entsprechenden Denkräumen haben Betroffene das Gefühl von Kontrolle, aber auch Einzigartigkeit. Letzteres ist als Motiv nicht zu unterschätzen. Denn es macht etwas mit einem, wenn man sich im Besitz einer „Wahrheit“ wähnt, die andere nicht zu begreifen scheinen.

Leider, schloss Ogman daran an, würde in solchen Räumen eher selten darauf hingewiesen, dass sich verschwörungsgläubige Menschen „auch selbst in Gefahr bringen“. Dies werde im Kontext der Pandemie deutlich. Schließlich seien es gerade Impfverweigerer, deren Gesundheit und Leben durch die Krankheit gefährdet wird.

Wieso Juden für Querdenker die Sündenböcke sind

Andere hingegen würden gar durch einen Teil der Leugner bedroht: Neben Gegendemonstranten, Journalisten, Politikern oder Personal, das auf die Einhaltung von Corona-Schutzmaßnahmen aufmerksam macht, seien insbesondere Juden in Gefahr. Hetz- und Hasstiraden gegenüber ihnen seien keine Seltenheit im sogenannten Querdenkermilieu, machte Ogman deutlich. Für Szenenprominente wie Attila Hildmann und zahlreiche Anhänger stecke nämlich eine vermeintlich jüdische Weltverschwörung hinter der Corona-Krise.

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Das werde nicht selten offen, häufiger jedoch in Codes kommuniziert. Mit Verweis auf Facebook-Posts Hildmanns klärte Ogman darüber auf, dass der Ex-Fernsehkoch die sogenannten Zionisten für die Krise verantwortlich mache. Hiermit sind schlicht Juden gemeint. So waren die tatsächlichen, sprich historischen Zionisten eine Gruppe von jüdischen Intellektuellen, die sich für eine Rückkehr europäischer und amerikanischer Juden nach Israel stark machten.

Die Zionisten, die Hildmann und Co. in ihrem Wahn vor Augen haben, seien eine imaginäre jüdische Weltelite. Diese habe in ihren Augen die europäische Politik vermeintlich ebenso in der Tasche, wie Wirtschaftsgrößen, unter ihnen etwa Bill Gates. Den Zionisten geht es für Hildmann und seine Mitstreiter darum, durch die Inszenierung der Pandemie die Kontrolle über die Bürger zu erlangen und so schlussendlich die Weltherrschaft zu übernehmen.

Die lange Geschichte des Judenhasses

Im folgenden begründete Ogman, der in New York aufgewachsen ist und selbst jüdische Wurzeln hat, weshalb Juden von dem scheinbar plötzlich wieder aufkeimenden Antisemitismus wenig überrascht waren: Dieser hat nämlich eine lange Geschichte und ist, so könnte man Ogmans Ausführungen stark verkürzt zusammenfassen, seit Jahrhunderten Teil der DNA christlich-geprägter Gesellschaften. Um dies zu untermauern, führte Ogman die Teilnehmer in die „lange Geschichte antisemitischer Verschwörungsmythen“ ein.

Er erzählte von der christlichen Ritualmordlegende des Mittelalters, in deren Zusammenhang behauptet wurde, Juden würden christliche Kinder umbringen und deren Blut für magische Zwecke verwenden. Er ging auch auf die Pestpogrome derselben Epoche ein. Während dieser wurde Juden gerne die Schuld für das Auftreten von Seuchen gegeben. Letztlich sprach er noch von der Veröffentlichung der „Protokolle der Weisen von Zion“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

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Hierbei handelt es sich um ein Dokument, das als direkte Grundlage der heutigen antisemitischen Verschwörungstheorien betrachtet wird. Auch wenn sich diese schon nach wenigen Jahren als antijüdisch motivierte Fälschung entpuppt hatte. Nichtsdestotrotz behaupten Antisemiten immer noch, dass es sich bei den Protokollen um authentische Gesprächsaufzeichnungen einer jüdischen Gesellschaft handle, in welchen deren Mitglieder ihre Weltherrschaftsbestrebungen formuliert hätten.

Nicht alle Verschwörungstheoretiker sind gleich

In der anschließenden Diskussionsrunde wurde eine wichtige Frage gestellt. Wie kann man Antisemitismus im Zusammenhang mit Corona in der Praxis begegnen? Schließlich handelte es sich bei vielen der knapp 50 Teilnehmern der Konferenz um Unterstützer des Programms „Demokratie leben!“. Dieses bringt bundesweit Projekte gegen Extremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit auf den Weg.

Viele Teilnehmer haben zudem, etwa als Sozialarbeiter, auch eine berufliche Verantwortung im Kampf gegen Vorurteile und Hass. Man wurde sich einig, dass es mit Blick auf das Radikalisierungspotenzial unter Impfgegnern durchaus zu differenzieren gilt. Ogman zeigte sich davon überzeugt, dass Menschen mit einem Interesse an alternativen Heilmethoden und begrenzt kritischen Ansichten gegenüber der Schulmedizin nicht zwangsläufig für antisemitische Verschwörungstheorien offen sein müssen.

Was jedoch jene angeht, die die Schulmedizin gänzlich ablehnen, war der Politikwissenschaftler nicht so sorgenlos: Schließlich müsse man hier, so deutete es Ogman jedenfalls an, von einer grundlegenden Wahrheitsimmunität ausgehen.