Der Anblick eines vermähten Rehs ist mindestens unschön, wenn nicht sogar grausam. Denn vermäht bedeutet nicht weniger als dass das kleine Tier mit den hübschen weißen Punkten, das erst wenige Tage auf der Welt ist, von einer meterlangen Mähmaschine erfasst und getötet wurde. „Das Ergebnis ist Gulasch“, wie Kreisjägermeister Kurt Kirchmann trocken beschreibt. Ein solches Ergebnis hat neulich eine Spaziergängerin beim Sielmann-Weiher in Worblingen gesehen und sich nach einigen Gesprächen mit Verantwortlichen auch an den SÜDKURIER gewandt. Denn sie findet: „Das ist Tierquälerei.“ Dabei gebe es doch für genau solche Fälle mit der Rehrettung einen kostenlosen Service.
Tatsächlich sind die Ehrenamtlichen der Rehrettung Hegau-Bodensee seit Wochen nahezu jeden frühen Morgen im Einsatz, um Rehkitze vor dem Mähen aus hohem Gras zu retten.
Erfolgsquote liegt aus der Luft bei 85 bis 90 Prozent
Ganz vermeiden lässt sich der Tod eines Rehkitz nicht, sagt Barbara Schmidle. Sie ist Vorsitzende des Vereins, der sich vor fünf Jahren gegründet hat, um Kitze vor dem Vermähen zu bewahren. Denn die Kitze würden sich sehr gut in dem hohen Gras verstecken und, besonders wenn sie sehr jung sind, an den Boden drücken. Doch die Erfolgsquote liege bei 85 bis 90 Prozent. 2019 wurden 186 Kitze gerettet, dieses Jahr waren es bereits 69 Einsätze.
Mit drei Drohnen sind die Ehrenamtlichen im Landkreis Konstanz, aber auch in umliegenden Landkreisen unterwegs. Mit Hilfe der integrierten Wärmebildkameras können sie die warmen Tierkörper in der kühlen Umgebung erkennen. Dann können Helfer das Kitz einkreisen und in einem Sack in Sicherheit bringen, bis die Wiese gemäht ist. Anschließend wird das Kitz wieder freigelassen und kann mit seiner Mutter zusammenfinden, die meist nicht weit entfernt ist.
Tarnung ist beim Mähen ein Nachteil
Beim Mähen geraten Natur, Mensch und Ökonomie in einen Konflikt: Das Kitz ist eigentlich optimal getarnt, um im Gras sicher zu sein vor Raubvögeln. Doch der Feind hat sich gewandelt. Seit vielen Jahren übernehmen Maschinen das Mähen – und diese werden immer größer. Die Intensivierung der Landwirtschaft nimmt zu. Das sei eine Entwicklung, zu der auch jeder einzelne Verbraucher beitrage, sagt Schmidle. Bei den heutigen Mähmaschinen habe ein Kitz im Gras quasi keine Überlebenschance.

„Die Landwirte sehen das tote Kitz erst, wenn sie das Heu aufschütteln. Oder wenn Raubvögel darüber kreisen“, sagt Kreisjägermeister Kurt Kirchmann. Er ist bei einigen der Einsätze dabei und spricht für die Jäger, die als Pächter mitverantwortlich für das Wild sind.
Schon früher sind Landwirte am Vorabend eines Mähens die Felder abgegangen, um Kitze zu retten. Kurt Kirchmann erinnert sich, wie er einst Vogelscheuchen aufgestellt hat, die Rehe vergrämen sollten. Doch obwohl es heute mit Drohnen viel bessere Hilfsmittel gibt, sterben weiterhin Kitze.
Manche Landwirte sind unbelehrbar. Dann droht eine Geldstrafe
„Jedes Kitz, das vermäht wird, fehlt“, sagt der Kreisjägermeister. Dabei sehe das Tierschutzgesetz vor, dass kein Wirbeltier grundlos getötet werden dürfe. Er komme selbst vom Land und habe schon einmal ein Kitz vermäht, das lasse sich nicht immer vermeiden. Doch wenn jemand immer wieder Rehkitze töte, ohne entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, ärgere ihn das. Deshalb scheue er sich nicht, unbelehrbare Landwirte anzuzeigen: „So ein getötetes Kitz kann den Landwirt bis zu 2000 Euro kosten“, sagt Kirchmann. Er hofft, dass sich solche Konsequenzen herumsprechen, damit sich künftig noch mehr Landwirte und Jagdpächter bemühen.
Es geht nicht nur um ein Tier: Rekord waren zehn Kitze in einer Wiese
Die Rehrettung Hegau-Bodensee hat mit ihren rund 25 aktiven Rehrettern vor allem ein Ziel: Kitze vor dem Vermähen zu bewahren. Denn ihnen gehe es allein ums Tierwohl. Der Verein legt Wert auf ein enges und gutes Miteinander mit Landwirten und Jägern. „Ideal ist es, wenn wir mit dem Landwirt und Jäger vor Ort sind“, sagt Vorsitzende Barbara Schmidle. Dabei sei es für die Ehrenamtlichen umso einfacher, je besser sich die anderen auskennen: In manchen Wiesen ist die Wahrscheinlichkeit besonders hoch, dass darin Kitze liegen. Zum Beispiel nahe eines Waldrandes. Zuletzt hätten sie bei einem Einsatz sogar zehn Rehkitze retten können.
Seit Ende April und bis Ende Juni sind die Drohnen-Teams ab 4.30 Uhr unterwegs. „Da steckt sehr viel persönliches Engagement dahinter“, sagt Schmidle. Das Steuern der Drohne braucht einen speziellen Führerschein und Erfahrung. Der Einsatz der Rehrettung ist für Landwirte kostenlos. Der Verein freut sich aber über Spenden, etwa um die Ausrüstung zu finanzieren.
Ehrenamtliche können nicht immer helfen. Was den Landwirten dann bleibt
Ein Manko des Ehrenamts: Die Rehretter arbeiten in ihrer Freizeit. „Wir versuchen die Anfragen anzunehmen, so oft es geht“, erklärt die Vereinsvorsitzende. Doch die Anfragen sind meist kurzfristig und gehäuft: Viele Wiesen sollen zur gleichen Zeit gemäht werden. Deshalb sei das Absuchen mit einer Drohne nicht immer möglich. „Wichtig ist, Maßnahmen zu ergreifen. Die Rehrettung mittels Drohne und Wärmebildkamera ist eine davon, aber nicht die einzige“, sagt Barbara Schmidle. Notfalls müssten die Verantwortlichen wie früher die Felder abgehen und dabei genau hinsehen. Hunde können dabei helfen, müssen laut Kurt Kirchmann aber eine sehr gute Nase haben.
Spaziergängerin kritisierte Tierquälerei: Was die Polizei zu diesem Fall sagt
Im Fall des Rehkitz, das neulich am Sielmann-Weiher bei Worblingen gestorben ist, erklärt die Polizei übrigens auf Nachfrage: „Diesem Landwirt kann man keine Vorwürfe machen.“ Denn er habe mit dem Jagdpächter entsprechende Maßnahmen getroffen. Die zuständige Schutzpolizeikommission Gewerbe/Umwelt mit einem Sitz in Singen habe seit Jahren eine gute Zusammenarbeit mit Landwirten im Hegau.
Vertreter von Landwirten erklärt: „Keiner möchte ein Reh so töten“
Holger Stich ist Bezirksgeschäftsführer des Badischer Landwirtschaftlicher Hauptverband (BLHV) für den Bezirk Stockach, zu dem auch der Hegau gehört. Er erklärt die Sicht von Landwirten.
Wie können Landwirte vermeiden, dass Kitze im hohen Gras mit der Mähmaschine getötet werden?
Entweder der Landwirt geht selbst eine Wiese ab. Da ist er aber allein auf einer großen Fläche und die Gefahr ist relativ groß, etwas zu übersehen. Oder der Landwirt aktiviert mit dem Jäger noch mehrere Leute, die mit ihm zusammen die Wiese abschreiten – das ist dann wirklich Handarbeit. Ich habe schon gehört, dass Landwirte zum Beispiel einen örtlichen Verein um Hilfe gebeten haben. Oder der Betroffene wendet sich an die Rehrettung Hegau-Bodensee, die mit Drohne und Wärmekamera Kitze entdecken kann.
Was hat sich dabei verändert?
Mit einer Drohne ist das Absuchen einfacher und man kann eine größere Fläche genauer untersuchen. Selbst wenn ich mit vielen Personen suche, kann es sein, dass ich ein Rehkitz übersehe. Die Tiere machen sich ja klein im hohen Gras.
Ist es auch im Interesse von Landwirten, tote Kitze zu vermeiden?
Natürlich, kein Landwirt möchte ein Tier auf diese Art und Weise töten. Wenn das Vermähen vermeidbar ist, wird ein Landwirt das tun. Manche Kitze kann man aber ohne Drohnen kaum finden, weil sie sich so gut niederkauern. Und wenn es doch passiert, was jeden Landwirt berührt, dann hat man ein sehr, sehr schlechtes Gewissen. Das höre ich immer wieder. Es kann auch strafrechtliche Folgen haben: Es gab schon Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft ermittelt hat wegen Verstoß gegen das Tierschutzgesetz, weil ein Landwirt nicht ordnungsgemäß abgeschritten ist. Das wird richtig teuer und geht in den vierstelligen Bereich.
Ein vermähtes Reh könnte auch das gemähte Gras vergiften, oder?
Wenn Tierbestandteile ins Futter geraten, ist das nie gut. Doch das ist nicht das Hauptproblem.
Ist die Zahl der toten Kitze gesunken?
Es ist generell besser geworden, weil Landwirte sich mehr damit beschäftigen. Die Landwirte sind sensibilisiert, dass die Mähzeit für Kitze enorm gefährlich ist. Auch durch die öffentliche Meinung und Fälle, wo es zu harten Strafen kam. Aber die Betriebe werden größer, müssen aus arbeitswirtschaftlichen Gründen viel Fläche in kurzer Zeit mähen. Da kann natürlich mehr passieren, als wenn ich nur ein paar Quadratmeter mähe. Landwirte schauen aber schon sehr darauf, da hat sich das Bewusstsein verändert.
Empfehlen Sie Landwirten, die Rehrettung zu kontaktieren?
Wir verweisen auf die Rehrettung, ja, und haben Kontakte hergestellt. Die meisten Landwirte müssen inzwischen davon gehört haben, dass es dieses Angebot gibt. Wenn die Mähzeitpunkte bevorstehen, weisen wir auch in der Bauernzeitung darauf hin, dass es mit der Rehrettung eine Möglichkeit gibt, dass weniger passiert – am besten passiert gar nichts. Meist ruft ein Landwirt bei dem Jäger oder der Rehrettung an und fragt, ob diese bald Zeit haben.
Wie ist die Resonanz auf das Projekt?
Ich habe eigentlich nur positive Resonanz gehört. Der Großteil der Landwirte arbeitet mit Jägern und Rehrettung zusammen und kümmert sich darum. Die Landwirte freuen sich dann auch, wenn durch den Drohnen-Einsatz drei Rehkitze auf einer Wiese gerettet werden können – auch in dem Wissen, dass man es selbst vermutlich nicht gefunden hätte. Problem ist mittlerweile, dass die Rehrettung zu wenige Drohnen hat, um die Flächen zeitgenau zu überfliegen. Die Kapazitäten sind einfach begrenzt. Ich bin überzeugt, dass es sonst noch mehr in Anspruch genommen werden würde.