„Um diese Zeit war es heute so dunkel, dass wir fast eine Taschenlampe brauchten, um die gewachsenen Rettiche im Block (Gewächshaus) zu finden. Danach regnete es wieder“, schrieb der Reichenauer Gärtner Christof Deggelmann morgens um 8 Uhr am 30. April 1986 in sein Anbau- und Ernte-Tagebuch.
Am Nachmittag notierte er: „Vielleicht war das heute schon Anzeichen des radioaktiven Niederschlags.“ Und: „Um 19 Uhr wurde der Himmel richtig gelb und trüb mit starkem Regen.“ Der damals 24-Jährige ahnte das Unheil, das kommen sollte.
„Da ist ja nichts“
Am 26. April 1986 war es zur Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk von Tschernobyl gekommen. Erst nach und nach wurde die ganze Wahrheit darüber bekannt. Trotz der düsteren Ahnung unternahm Christof Deggelmann am 1. Mai noch einen Ausflug mit seinen Freunden von Berlingen nach Mannenbach.
Denn die Schweizer Regierung reagierte nicht so vorsichtig auf die möglichen Folgen der Katastrophe. „Da ist ja nichts“, hätten er und seine Kumpels damals gedacht, berichtet Christof Deggelmann heute lachend. Und fügt ernst an: „Wie man reagieren muss, wusste man nicht. Es gab keine genauen Daten und Erfahrungen.“
Land erlässt Ernteverbot
Doch die Landesregierung reagierte drastisch. Ab dem 5. Mai gab es ein Ernteverbot für jegliches Freilandgemüse, ist in seinem Tagebuch eingetragen. Da wäre gerade der erste Kopfsalat erntereif gewesen, berichtet er. Den habe sein Vater Pirmin, der den landwirtschaftlichen Betrieb damals noch leitete, zunächst stehen lassen.
Doch schließlich habe man die Felder mulchen und den Salat unterpflügen müssen, rund 15.000 Köpfe auf rund 15 Ar Fläche. „Das tat schon weh“ sagt Christof Deggelmann. Ab dem 15. Mai habe man dann zwar wieder Salat, der zur Zeit der Katastrophe noch mit Folie abgedeckt war, ernten und bei der Genossenschaft abliefern dürfen.

Doch die Folie habe man entsorgen müssen. Da sei jemand gekommen mit einem Geigerzähler, um deren radioaktive Kontamination zu messen, erinnert sich Christof Deggelmann. Und weiter: „Das hat gepiept wie verrückt.“
Leute wollten kein Freilandgemüse mehr essen
Das große Problem sei die Unsicherheit gewesen. Für das vernichtete Gemüse und die Folie seien die Gärtner zwar entschädigt worden. Doch plötzlich wollten viele Leute kein Freilandgemüse mehr essen. Die Verunsicherung sei groß gewesen, der Absatz noch lange schleppend und die Preise für die Gärtner entsprechend niedrig.
Es habe eine richtige Negativkampagne gegeben, meint Christof Deggelmann. „Man hat damals ja nicht gewusst, wie es weitergeht“, sagt er. Und am 9. Mai hätten dann viele Gärtner eine Traktor-Demo gestartet vor dem damaligen Raiffeisen-Lagerhaus, weil zugleich die Schweizer Kollegen im Tägermoos ganz normal ernten und verkaufen durften, obwohl es dort doch dieselben Werte gegeben habe.
Ein beängstigend aussehender Himmel
An den Ärger über diese Ungleichbehandlung kann sich auch der Reichenauer Gärtner Franz Deggelmann gut erinnern. „Ich hatte gerade frisch den Betrieb übernommen. Da war die Stimmung nicht so gut“, sagt er. Auch er erinnert sich an den beängstigend aussehenden Himmel am 30. April. Er habe sich zunächst aber noch keine Sorgen gemacht, da könnte atomarer Regen kommen.

„Wir sind spät informiert worden, das war das Problem“, so Deggelmann. Er habe damals nicht nur Salate, sondern auch Kohlrabi und Blumenkohl auf rund 1,5 Hektar vernichten müssen, „quasi die ganze Palette. Man hat nichts mehr auf dem Feld stehen gehabt. Das war natürlich schon ein Schlag“.
Angst um den Nachwuchs
Und trotz der hierfür erhaltenen Entschädigung, weiß er auch noch von der Unsicherheit, verbunden mit der Frage, wie es weitergeht, weil der Verkauf des Freilandgemüses noch lange schleppend gewesen sei.

Und er sei, damals 31 Jahre alt, auch privat betroffen gewesen. Seine Frau sei schwanger gewesen, am 1. Mai habe die Familie sich noch zum Grillen getroffen. „Da hat man sich schon Gedanken gemacht“, sagt er. Und Angst bekommen.
Weit unter dem Grenzwert
In einem Rundschreiben der Gemüse-Genossenschaft vom 6. Mai beklagte die Geschäftsleitung, bei Ministerien und Behörden kaum Gehör zu finden. Deshalb habe man selbst einen Physikprofessor der Uni Konstanz kontaktiert. Dessen Messungen hätten ergeben, dass sämtliches Freilandgemüse, ob abgedeckt oder nicht, weit unter dem Grenzwert von 250 Becquerel lag.
Die Genossenschaft wollte erreichen, dass wenigstens wie in anderen Bundesländern nur Blattgemüse als hoch belastet vernichtet werden müsse. Doch bis das anerkannt wurde, sei der Gemüsemarkt bereits „völlig am Boden“ gelegen.
Eine Gemeindeakte listete gut zwei Wochen später auf, was bis zum 23. Mai 1986 auf der Reichenau vernichtet werden musste: Das waren vor allem rund 540.000 Kohlrabi, circa 379.000 rote Rettiche, fast 87.000 Stück Kopfsalat, knapp 77.000 Bund Radieschen, 21.500 Blumenkohl, rund 19.000 Kilogramm Lauch und circa 3700 Kilo Spinat.