Marcus Pohl arbeitet als Leiter Betreuung und Pflege im Kompetenzzentrum Schönbühl in Schaffhausen. Die Hälfte seines Jahresurlaubs verbringt der fünffache Familienvater aus Orsingen allerdings viele Kilometer entfernt im indischen Kalkutta.

Der 50-Jährige war schon 31 Mal dort, um Spendengelder an die Ärmsten der Armen weiterzugeben und vor Ort mitzuarbeiten. Für sein herausragendes ehrenamtliches Engagement erhielt er 2019 das Bundesverdienstkreuz.

Wie es zu diesem Engagement kam

Ab 1995 arbeitete Pohl 15 Monate in einem Sterbehaus und einer Leprastation bei Mutter Teresa, wie er berichtet. 1996 traf er die Lehrerin Veronica Jose, die mit ihrer Familie in einem Slum lebte. Mit ihr gründete er die St. Josef Schule. „Bildung ist der sicherste und kürzeste Weg aus der Armut“, bekräftigt Pohl.

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Seit dem Tod von Veronica Jose im Jahr 2018 leitet deren Schwiegertochter die Schule in intensiver Zusammenarbeit mit Marcus Pohl. Er telefoniere und schreibe täglich mit ihr, erzählt er.

Wo die Menschen in Hütten aus Lehm wohnen

Die Schule liegt in einem der größten Slums Kalkuttas. Über 70.000 Menschen leben dort mit bis zu zehn Personen in Hütten aus Lehm und Blech oder völlig verwahrlosten, zum Teil illegal hochgezogenen Häusern. Für 600 Menschen gibt es oft nur eine Toilette und einen Wasserhahn.

In zusammengezimmerten Behausungen leben die ärmsten Einwohner der Millionenmetropole Kalkutta, darunter viele Kinder (Archivbild).
In zusammengezimmerten Behausungen leben die ärmsten Einwohner der Millionenmetropole Kalkutta, darunter viele Kinder (Archivbild). | Bild: German Doctors

Der Monsun von Mitte Juni bis Mitte September bringt jeglichen Unrat über die offene Kanalisation in die erbärmlichen Hütten. Jedes zweite Kind stirbt vor seinem zehnten Lebensjahr an der Amöbenruhr, also einer Infektion von Organen wie dem Dickdarm. Auch Tuberkulose und andere Krankheiten sind weit verbreitet.

Hilfestellung auf dem Weg ins Arbeitsleben

Das Projekt begann mit einer Nähschule. In Indien werden für religiöse Feste oft maßgeschneiderte Kleider angefertigt. „Wir haben bisher rund 700 Schneiderinnenzertifikate überreicht. Rund drei Viertel der Mädchen haben eine feste Anstellung gefunden, die anderen haben immer wieder temporär Arbeit.“

Festangestellt verdienen sie genug, um dreimal täglich zu essen, im Notfall zum Arzt zu gehen und die Kleidung zu wechseln. Inzwischen fertigen Nähschülerinnen die Uniformen der St. Josef Schule.

Erst öffnete die Nähschule, dann die Grundschule

Die Grundschule kam 2005 hinzu. Pohl sagt: „Seit 2014 können wir als Mittelschule bis zur siebten Klasse ausbilden. Wir versuchen, die Kinder danach auf fortführende Schulen zu schicken und finanzieren die Schulgebühren, Bücher et cetera.“

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Der Besuch der St. Josef Schule ist kostenlos. Die Schüler und deren Familien werden medizinisch grundversorgt. Kosten für anstehende Operationen oder Arztbesuche versuchen die Projektleiter durch Spenden zu decken.

Essen für 200 Familien wöchentlich

Die Kinder bekommen eine warme, vollwertige und nahrhafte Mahlzeit. Mittlerweile werden 200 Familien mit wöchentlichen Nahrungsrationen aus Reis, Linsen, Eiern, Zwiebeln, Kartoffeln und manchmal auch Waschseife und Öl zum Kochen gefördert. Von dieser Hilfe profitieren laut Marcus Pohl über 1200 Menschen.

Über 200 Kinder dürfen kostenfrei die St. Josef Schule besuchen. Sie bekommen an jedem Wochentag eine warme, nahrhafte Mahlzeit.
Über 200 Kinder dürfen kostenfrei die St. Josef Schule besuchen. Sie bekommen an jedem Wochentag eine warme, nahrhafte Mahlzeit. | Bild: Marcus Pohl

Das Projekt hat viele Unterstützer

Das Herzensprojekt hat einen treuen Unterstützerkreis in Deutschland und der Schweiz erobert. Dabei geht es nicht nur um Geldspenden. Seit etwa zwei Jahren ist der Schulverbund Nellenburg in Stockach eine Partnerschule auf Augenhöhe. Schüler der siebten und achten Klasse schreiben den indischen Kindern auf Englisch, demnächst wollen sie miteinander skypen.

Marcus Pohl ist sicher, dass beide Kulturen voneinander lernen können. „In Indien und speziell im Slum gelten viele Werte, die hier vergraben sind, zum Beispiel Familienzusammenhalt und sich gegenseitig in Not zu unterstützen.“ Hier planten Jugendliche ihre Zukunft, dort sei vor allem das Bild der Frau ganz anders in Bezug auf Bildung, Rechte und Berufswahl. So sei es in Indien fast vorgeschrieben, zu heiraten.

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Was Pohls Familie zu Kalkutta sagt

Auch die Familie steht voll hinter dem engagierten Helfer. Seine Frau Alexandra war schon viermal in Kalkutta. Sie sagt: „Man denkt immer, man ist der Gebende – aber man ist der Beschenkte. Alles kommt hundertfach zurück durch ein Lächeln, einen Händedruck oder eine Umarmung.“

Die älteren Kinder waren auch schon dort. Lukas, 20, sagt: „Ich war 15 und empfand die Reise als große Bereicherung, weil man die Welt aus einer anderen Perspektive sieht.“ Die 18-jährige Teresa erzählt: „Die Menschen behandeln ihn wie einen König. Ich habe ihn dort ganz anders kennengelernt und viel mitgenommen. Wir leben in einer Welt und doch gibt es so viele Unterschiede.“ Ihr Vater sei ein Vorbild für sie.

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Auch die 15-jährige Elisabeth bewundert seine Arbeit sehr. Bernadette, 17, wird nächstes Jahr mitfliegen. Sie unterstützt die Arbeit ihres Vaters durch Beiträge in den sozialen Medien und sagt: „Wir wissen, was unser Vater leistet. Ich freue mich für die Kinder und armen Leute.“

Neue Entwicklungen und mehr Unterstützung

Seit April gibt es eine Computerschule. Ein Schweizer Sponsor habe die Einrichtung von zwölf Lernarbeitsplätzen in einem klimatisierten Raum ermöglicht, berichtet Marcus Pohl. Es gibt EDV-Grund- und Fortgeschrittenenkurse. Damit hätten die Teilnehmer die Chance, bestmögliche Fähigkeiten zu erwerben, um dem Armutssog zu entkommen.

Das Kleidergeschäft Josmar wurde im Oktober 2021 eröffnet. Hier werden Kleidungsstücke verkauft, die in der Nähschule entstanden sind. ...
Das Kleidergeschäft Josmar wurde im Oktober 2021 eröffnet. Hier werden Kleidungsstücke verkauft, die in der Nähschule entstanden sind. Mit dem Gewinn soll die St. Josef Schule künftig unterstützt werden. | Bild: Marcus Pohl

Dank einer Schweizer Weihnachtsaktion wurde im Oktober 2021 das Kleidergeschäft Josmar eröffnet. Dort werde Damenbekleidung verkauft, die in der eigenen Schneiderei unter fairen Bedingungen produziert wurde. Der Verkaufsgewinn soll künftig der Schule zukommen.

Der Campingplatz Sandseele auf der Reichenau will im Sommer Produkte des indischen Geschäfts anbieten. Das Humboldt-Gymnasium in Konstanz ist Partnerschule der St. Josef Schule und wird es mindestens für weitere drei Jahre bleiben. Die Schule unterstützt mit Geldspenden, die beispielsweise in Sponsorenläufen zusammenkommen.