„Halt dich rein! Acht dich klein! Sei gern mit Gott und Dir allein!“ So hat dies im Jahr 1916 einer in Schönschrift ins Poesiealbum der Oma geschrieben. Für die meisten Nachfahren sind diese Zeilen dennoch unlesbar. Denn sie sind in Sütterlin verfasst, einer vergessenen Schreibschrift, die 1911 entwickelt worden war und bis 1941 stark gebraucht wurde.

In den 50er Jahren lernten manche sie noch, so wie die 69 Jahre alte Christine Hähl und die 70-jährige Roswitha Schweichel. „In der Schule lief das unter Schönschrift“, sagt die Ältere. Die Jüngere lernte Sütterlin im Kunstunterricht kennen.

Weit über die Region hinaus bekannt

Beide gehören heute zu den 25 Ehrenamtlichen, die sich in der Sütterlin-Schreibstube der Arbeiterwohlfahrt (Awo) engagieren, dem Übersetzdienst für altdeutsche Handschriften, der nach zehn Jahren des Bestehens weit über die Region hinaus bekannt ist.

Roswitha Schweichel (links) und Christine Hähl gehören zu den Übersetzerinnen in der Sütterlin-Schreibstube der Awo. Sie entziffern ...
Roswitha Schweichel (links) und Christine Hähl gehören zu den Übersetzerinnen in der Sütterlin-Schreibstube der Awo. Sie entziffern Texte, die Vorfahren in der vergessenen Sütterlinschrift hinterlassen haben, etwa im Poesiealbum oder in einer Krankenakte. | Bild: Claudia Rindt

Deutsche Auswanderer melden sich aus aller Welt mit Schriftstücken. Es kamen auch schon Anfragen aus den USA. Die Schreibstube übersetzt für private Zwecke Kleinigkeiten wie Postkarten, aber auch größere Werke wie eine Serie von Tagebüchern.

Manches ist akkurat geschrieben, manches krakelig dahingewischt wie der Brief des Urgroßvaters aus dem Schützengraben oder die mit klammen Fingern verfassten Notizen aus einer Expedition.

Um die Ecke muss man denken können

Manchmal ist das, was übersetzt werden soll, gar nicht in Sütterlin geschrieben, sondern in einer Mischung aus Schriftstilen und Eigenarten des Verfassers. „Manche Worte lassen sich nur erkennen, weil man sie in einem anderen Zusammenhang schon mal entschlüsselt hat“, sagt Christine Hähl.

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Roswitha Schweichel hat schon oft erlebt, dass der Verfasser abrupt das Thema wechselte und sie erst an einen Fehler im Verstehen glaubte. „Da steht dann: Das Kind war krank, musste ins Krankenhaus, jetzt ist es zuhause, gestern haben wir das Schwein geschlachtet.“ Manchmal gelte es auch, um die Ecke zu denken. „Das ist Detektivarbeit“.

Die in Sütterlin geschriebenen Dokumente fielen Nachfahren häufig dann in die Hände, wenn diese den Dachboden oder den Keller ausräumten, sagt Christine Hähl. „Da ist dann eine Kiste mit den Liebesbriefen der Eltern oder den Unterlagen des Großvaters aus dem Krieg.“

So lernt man die Gedanken seiner Vorfahren kennen

Manchmal landen bedrückende Dokumente auf dem Tisch der Schreibstube, etwa über Kriegsgräuel, manchmal Liebesbriefe, die heute noch ihren Zauber entfalten.

Roswitha Schweichel erinnert sich gern an Briefe einer Frau, die als Mädchen von einer Karriere als Opernsängerin träumte, sich romantischen Schwärmereien hingab und dann Hausfrau und Mutter von vier Kindern wurde. Manche Nachfahren seien dankbar, dass sie erfahren, wie die Eltern als Jugendliche lebten und dachten.

Bei Rechtsverbindlichem müssen Profis ran

Von allem, was heute noch rechtsverbindlich geltend gemacht werden könnte, wie Grundbucheinträge oder Urkunden, lässt das Sütterlin-Team die Finger. Hier müssten die Profis ran, betont Christine Hähl.

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Das Übersetzer-Team unterstützte auch schon wissenschaftliche Arbeiten, etwa als es um Inhalte von Akten aus der Psychiatrie Reichenau ging.

In einem anderen Fall half es bei den Bemühungen, die Geschichte eines niedersächsischen Dorfs anhand des Schicksals einer Familie darzustellen. Besonders hineingefuchst hat sich Hähl in die Kürzelschrift der Karteikarten, die über Soldaten der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg geführt wurden.

Unter den Übersetzern sind hochbetagte Menschen, die gern an den Texten arbeiten. „Manche sind mit 200 Stunden im Monat dabei.“ Unter den Jüngeren haben sich einige aus Interesse selbst Sütterlin beigebracht.

Der jüngeren Generation ist Sütterlin kaum mehr bekannt

Einigen jüngeren Menschen hingegen seien Handschriften so wenig vertraut, dass sie schon Zeilen zum Übersetzen brachten, die der heutigen Schreibschrift entsprachen. Roswitha Schweichel wundert dies nicht.

Ihre zwölfjährige Enkelin beispielsweise lerne in der Schweiz nur mehr das Schreiben in Druckbuchstaben. „Sie ist darin wahnsinnig schnell.“ Auch durch Handy und Computer sei für viele junge Menschen die Druckschrift das vertraute Bild.