Die Tage verbrachte er in den Bibliotheken der Stadt, las und schrieb. Nachts kehrte er zurück auf den Bauernhof und legte sich zum Schlafen in das Stroh des Viehwagens. Michael Müller war mit seinem Leben in Obdachlosigkeit zufrieden, sagt er. Bücher, Wörter, ein Platz zum Schlafen und Schreiben hätten ihm gereicht.

Michael Müller sitzt in der Beratungsstelle für Wohnsitzose der AGJ. Hier hat er einen Ort zum Lesen und Schreiben, neuerdings bis 18 ...
Michael Müller sitzt in der Beratungsstelle für Wohnsitzose der AGJ. Hier hat er einen Ort zum Lesen und Schreiben, neuerdings bis 18 Uhr. Er wünscht sich eine feste Bleibe, und wenn es nur für ein paar Monate für die kalte Jahreszeit ist. Denn in Bibliotheken oder Cafés wie früher kann er nicht mehr sein, wegen der Pandemie. | Bild: Eva Marie Stegmann

Nun befindet sich die Welt in der zweiten Welle der Pandemie, und mit jedem Tag, den der Winter heranrückt, fragt sich Michael Müller drängender, wo er sich tagsüber aufhalten soll. Die Bibliotheken sind geschlossen, zumindest für Nicht-Studenten. Die Cafés ebenso.

Das letzte Refugium ist die eigene Wohnung

„Die Menschen sind förmlich zurückgeworfen auf ihr letztes Refugium: die Wohnung.“ Er macht eine Pause, man hört im zweiten Stock der AGJ-Tagesstätte für Wohnsitzlose ein Auto draußen scharf bremsen. Dann deutet Müller auf sich: „Und wir haben keine.“

Zu Besuch in der Beratungsstelle für Wohnsitzose der AGJ in Konstanz
Zu Besuch in der Beratungsstelle für Wohnsitzose der AGJ in Konstanz | Bild: Eva Marie Stegmann

Er spricht in einer angenehmen Tonlage und nicht zu schnell, seine Stimme hat etwas Beruhigendes. Eine Vorleserstimme. Doch Müller ist kein Vorleser, sein Beruf ist Autor und Dichter, sagt er. Nur dass er nicht dafür bezahlt wird. Daher die Obdachlosigkeit, seit 16 Jahren. Vor ihm auf dem Holztisch liegt ein Packen Blätter in Klarsichthülle. Seine Gedichte.

Das könnte Sie auch interessieren

Tagesstätte hat im Winter länger geöffnet

Um 18 Uhr schließt die Tagesstätte, über den Winter gelten verlängerte Öffnungszeiten. Das Hygienekonzept wurde hier vorbildlich umgesetzt. In jedem Stockwerk hängen Desinfektionsspender an den Wänden, aufgeklebte Kreuze markieren die Sitzplätze. Im Erdgeschoss und in den beiden oberen Stockwerken. Das hat zur Folge, dass nur 15 Leute gleichzeitig in dem Altbau verweilen dürfen.

Zu Besuch in der Beratungsstelle für Wohnsitzose der AGJ in Konstanz
Zu Besuch in der Beratungsstelle für Wohnsitzose der AGJ in Konstanz | Bild: Eva Marie Stegmann

An zwei Nachmittagen die Woche müssen Müller und die anderen bei der AGJ Gemeldeten das Erdgeschoss mit Kaffee und Gebäck verlassen und in eine andere Etage wechseln. Es ist die Zeit, in der die Tagesstätte für die Männer und Frauen öffnet, die in der städtischen Notunterkunft am Haidelmoosweg schlafen.

Auch Notunterkunft hat länger geöffnet

Vor der Pandemie hatten die Haidelmoosweg-Bewohner keine separaten Öffnungszeiten, sie konnten jederzeit in der Tagesstätte vorbeischauen, duschen, sich medizinisch oder persönlich beraten lassen. Die AGJ-Wohnungslosenhilfe hat dieses Angebot eingeschränkt, um alle Hygienevorschriften einhalten zu können.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Notunterkunft Haidelmoosweg reagierte darauf – und verlängerte ihrerseits die Öffnungszeiten. Bisher konnte ein Wohnsitzloser dort nur schlafen und musste den Bau morgens verlassen. Nun kann er theoretisch ganztägig dort sein.

Zu Besuch in der Beratungsstelle für Wohnungslose der AGJ
Zu Besuch in der Beratungsstelle für Wohnungslose der AGJ | Bild: Eva Marie Stegmann

Das Ganze geht aber nicht auf. Seit Corona, so berichtet das Bürgeramt, das für die Unterbringung zuständig ist, wollen viel mehr Menschen dort übernachten. Also wurden neue Plätze geschaffen. In Mehrbettzimmern. Die Männer schlafen zu zweit oder zu viert.

Städtische Ämter schlagen Alarm

Noch vor Beginn des Winters ist auch der neu eingerichtete Trakt nahezu voll belegt. Das Bürgeramt schlägt nun Alarm: Käme es zu einem Corona-Fall, gäbe es keine Ausweichmöglichkeiten, um Infizierte zu isolieren. Das ganze Gebäude müsste unter Quarantäne gestellt, umzäunt und von Sicherheitsleuten bewacht werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Dasselbe gilt für die zweite, seit Monaten voll belegte Notunterkunft Hafenstraße. Und das ist nicht alles. Die Konflikte haben massiv zugenommen. Liest man die Vorlage, über die die Stadträte im Sozialausschuss am heutigen Mittwoch beraten sollen, liest sich das wie ein einziger Hilferuf.

Sozialer Frieden in der Stadt ist in Gefahr

Der soziale Frieden sei in Gefahr, steht darin. Wenn für eine behördliche Vorlage Fettschrift genutzt wird, dann hat das etwas zu bedeuten. Seit Corona seien immer mehr Familien von Obdachlosigkeit betroffen. Die Lage drohe zu eskalieren, es brauche zwingend mehr Personal, mehr sozialpädagogische Betreuung. Und vor allem: Wohnraum.

Einer, der im Haidelmoosweg schläft, ist Tim Fruehschulz, 41. Lange Wimpern, Locken.

Tim Fruehschulz wünscht sich eine Wohnung. Bilder: Eva Marie Stegmann
Tim Fruehschulz wünscht sich eine Wohnung. Bilder: Eva Marie Stegmann | Bild: Eva Marie Stegmann

Im Aufenthaltsbereich der AGJ-Tagesstätte berichtet er, dass er mit der Faust ins Gesicht geschlagen worden sei. Er friere oder schwitze, die Heizungen seien kaputt. Auf den Böden der Sanitärräume liege Kot. Was er sich wünsche? Er lacht, das erste und einzige Mal während dieses Gesprächs. Es ist pure Resignation. „Eine Wohnung.“ Er weiß, dass er wahrscheinlich keine bekommen wird. Nicht in Konstanz.

Was tun? In der Vorlage für die Stadträte wird auf eine schnelle Lösung gedrängt. Container zum Beispiel. Daniel Groß von der CDU schätzt, dass dies für den Winter nicht mehr reichen könnte. „Container zu besorgen und aufzubauen, das dauert sicher zwei Monate.“ Vielleicht könne man kreativ werden und ein leer stehendes Hotel anmieten.

Zu Besuch in der Beratungsstelle für Wohnsitzose der AGJ in Konstanz
Zu Besuch in der Beratungsstelle für Wohnsitzose der AGJ in Konstanz | Bild: Eva Marie Stegmann

Michael Müller, der obdachlose Dichter, sagt, dass er immer höre, seit Corona sei die Solidarität so groß. „Ich würde mir wünschen, dass sich die Solidarität auch auf uns erstrecken würde. Vielleicht ein begrenzter Mietvertrag, bis die Pandemie vorbei ist?

Ich würde mir wünschen, dass man ein Zimmer bekommt. Sonst komme ich mir vor, als wäre ich verflucht.“

Rückmeldung an den Autor geben