Die 1960er-Jahre waren in vielen Bereichen von einem starken Umbruch geprägt. In der Bergstadt war das Jahrzehnt seinerzeit vor allem für Katholiken ein Jahr mit einer massiven und spektakulären Veränderung. In St. Georgen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausschließlich evangelisch geprägt war, siedelten sich immer mehr Katholiken an. Die Folge war, dass das alte Gotteshaus, das erst 1890 gebaut und 1956 gründlich renoviert wurde, zu klein geworden war. Die Kirche wurde eingerissen, der Turm fiel im Mai 1960. Der Abbruch einer Kirche, ein seltener und gravierender Einschnitt in das Leben vieler Gläubiger.
Das Problem, das die Verantwortlichen damals zu diesem Schritt zwang, scheint heute nahezu undenkbar. Die Besucherzahlen von damals, die schließlich den Ausschlag gaben, sind für heutige Verhältnisse unglaublich. Rund 1000 Besucher seien sonntags in den katholischen Gottesdienst gegangen. Das kleine Kirchlein, steinernes Zeugnis der vorsichtigen Anfänge der Pfarrei in der Bergstadt, war regelmäßig heillos überfüllt. Die 1960er-Jahre waren wohl so etwas wie der Höhepunkt in der Geschichte der Pfarrei St. Georg. In der Zeit des Abbruchs und des Neubaus, also im Jahr 1960, mussten die Gläubigen übergangsweise zum Sonntagsgottesdienst um 7.30 Uhr in die evangelische Lorenzkirche gehen oder zu einem Gottesdienst in der Übergangskirche, die damals in der heutigen Robert-Gerwig-Schule eingerichtet wurde.
Oft noch heute Thema
Pfarrer Paul Dieter Auer kennt die Zeiten des Umbruchs vor allem aus den Gesprächen, die er über die vielen Jahre in St. Georgen geführt hat. "Da wurde vieles durcheinandergewirbelt", sagt er. Der Zustrom der damaligen Gastarbeiter habe viele Veränderungen in der katholischen Gemeinde mit sich gebracht, nicht nur, dass sie beträchtlich angewachsen ist. Italiener, Kroaten, Spanier – in einer großen Mehrzahl katholisch geprägt. "Meine Gemeinde ist heute multikulturell." Der Pfarrer spricht diese Worte mit einem gewissen Ärger in sich. In Anbetracht der heutigen Situation ärgere es ihn besonders, so der Pfarrer, in welcher Art und Weise viele Menschen über die heutige Migration sprechen und denken. Ihn freue es, wenn beispielsweise Tamilen, die in St. Georgen heimisch geworden sind, seinen Gottesdienst besuchen. Er erinnert auch an die Herkunft und Bedeutung des Wortes "katholisch", das im Griechischen "allumfassend" bedeute und schon aus diesem Grund keine Grenzen kenne.
Der Zustrom in den 1960er-Jahren verschob auch das Gewicht des einst rein evangelisch geprägten St. Georgens. "Viele reden immer vom evangelisch geprägten St. Georgen. Das stimmt heute nicht mehr, das Verhältnis ist mittlerweile fast ausgeglichen", so Paul Dieter Auer. Der Statistische Jahresbericht der Stadt von 2017 zeigt, dass sich die Zahlen mittlerweile tatsächlich angenähert haben. 4 787 Menschen gehörten der Evangelischen Kirche an, 4 177 der Katholischen. Hinzu eine fast ebenso große Anzahl von Personen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören – 3 919.
Die Zahlen wandeln sich. Während immer weniger den Kirchen angehören, wächst die Zahl derer, die keiner Gemeinschaft angehören. Eine andere Situation als in den 1960er-Jahren. Die alte katholische Kirche in St. Georgen hatte damals gerade einmal rund 270 Sitzplätze. Die Entscheidung, am gleichen Platz eine neue zu bauen, sei sehr weitsichtig gewesen. "Man hat damals sehr geschickt gebaut, sodass eine sehr viel größere Kirche mit 720 Sitzplätzen Platz hatte", sagt der Pfarrer.

Trotzdem schmerzte die Veränderung einige innerhalb der Pfarrgemeinde: "Das hat vielen Leuten Schmerz bereitet, das spüre ich heute noch in den Gesprächen. Viele alte Leute haben in dem alten Kirchlein geheiratet oder die Kinder taufen lassen", so Pfarrer Auer.
Hunderte Zuschauer
Wie Jochen Schultheiß im Jahr 2007 in der Chronik der Pfarrei St. Georg zum 100-jährigen Bestehen schrieb, war besonders der Abriss des Turms damals spektakulär. "Trotz eines Gewitters mit heftigem Regen, das gerade über St. Georgen niederging, hatten sich am Montag, 16. Mai 1960, mehrere hundert Zuschauer eingefunden, um beim Fall des Turmes dabei zu sein." Der Plan des Abbruchs war es, den Turm nach hinten in das Kirchenschiff hineinzuziehen, wo er schließlich versank. Der Spatenstich für die neue Kirche war exakt einen Monat später – am Fronleichnamstag, 16. Juni 1960.

Am dritten Adventssonntag folgte die Grundsteinlegung für das neue Gotteshaus. Die Bauarbeiten waren zwischenzeitlich auf einem guten Weg. Die Grundsteinlegungsurkunde wurde von Dekan Max Weinmann verlesen und in eine Kassette verbracht. Mit dabei: Tageszeitungen des Vortags und einige Münzen. In der Chronik der Pfarrei heißt es: "Die Kassette wurde in einer Vertiefung des Grundsteins eingelassen. Dieser stammt noch von der alten Kirche. Er wurde neu behauen und trägt jetzt, nach außen gekehrt, die Jahreszahl 1960."
Damals und heute
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