Tamer Alhaddad schaut in den Atlas, der vor ihm und dem 21-jährigen Aman Yowhans Zeru auf dem Tisch liegt. „Hier, aus Hama, da komme ich her“, sagt der 27-Jährige und deutet mit dem Finger auf den Ort, der so ziemlich in der Mitte Syriens (Vorderasien) liegt. Am 6. Januar ist es genau zwei Jahre her, dass der junge Mann mit dem wachen Blick aus seinem Heimatland geflüchtet ist. Anderthalb Jahre zuvor verließ auch Zeru sein Zuhause in Eritrea, flüchtete vor dem autoritären Regime in dem ostafrikanischen Staat. Die beiden jungen Männer sind zwei von 27 Bewohnern des Albert-Schweitzer-Hauses, haben einen anerkannten Status als Flüchtling. Damit dürfen sie in den kommenden drei Jahren in Deutschland bleiben, sind vorerst in Sicherheit. Sich mit den beiden zu unterhalten fällt nicht schwer. Deutsch haben beide im Griff. Sie erzählen von den Umständen ihrer Flucht und dem Ankommen in Bad Dürrheim.
"Wenn ich jetzt nach Syrien gehe, komme ich ins Gefängnis", sagt Tamer Alhaddad, stumm nickt Aman Yowhans Zeru. Ihm ginge es gleich. Denn beide haben sich der Wehrpflicht in ihrem Land entzogen, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Tamer Alhaddad hat in Alhasaka im Nordosten Syriens studiert. Seinen Beruf ausüben durfte der Bauingenieur dann in seinem Heimatland aber nicht. "Nach dem Studium musste ich zum Militär", sagt er. Das hätte bedeutet, in den Bürgerkrieg ziehen zu müssen. Mehr als 400 000 Menschen sind seit dessen Ausbruch vor knapp sechs Jahren getötet worden, heißt es in Schätzungen der Vereinten Nationen. Mehr als 11 Millionen Syrer sind auf der Flucht, mehr als die Hälfte davon innerhalb Syriens.
"Manche Freunde aus dem Studium sind zum Militär gegangen", sagt Alhaddad. Andere sind vor dem Kriegsdienst geflüchtet, so wie er. "Ich wollte nach Westeuropa, viele wollten nach Deutschland, mit denen bin ich dann gegangen."
Einen Monat lang war er auf der Flucht: Als Passagier eines Reisebusses fuhr er in den Libanon, flog von dort aus in die Türkei. Dort traf er auf einen Schlepper. "Er ist Syrer und kommt aus der Nähe meiner Heimatstadt, ich kannte ihn davor aber nicht." Wie man zu einem Schlepper kommt? "Man muss die Leute fragen", sagt Alhaddad trocken. Dem Schlepper zahlte er 2000 US-Dollar, dafür brachte ihn dieser mit der Gruppe nach Griechenland. Mit dem Bus, teilweise auch zu Fuß durchquerte der 27-Jährige dann Mazedonien, fuhr schließlich mit dem Zug nach Kroatien, von dort aus mit dem Bus nach Slowenien, schließlich nach Österreich, dann nach Passau. Es folgten Stationen in Flüchtlingsunterkünften in Ellwangen, Wertheim, Blumberg. "Ich durfte erst nicht in einen Sprachkurs, weil ich noch keinen Aufenthaltsstatus hatte." Also brachte sich der Bauingenieur kurzerhand selbst Deutsch bei.
Seit vergangenem Sommer lebt er nun in Bad Dürrheim, hat gerade ein Praktikum in einer Bauingenieurfirma in Tuningen gemacht. "Ich muss aber mein Deutsch verbessern, ich muss die Fachsprache lernen", sagt der ehrgeizige 27-Jährige. Am liebsten wäre ihm, weiterhin in der Firma zu arbeiten und parallel einen Sprachkurs besuchen zu können. "Das Problem versuche ich jetzt zu lösen, damit ich die Sprache besser lerne und aus dem Beruf nichts vergesse." Und wie geht es dann weiter? "Wenn die Situation in Syrien wieder gut ist, will ich zurück. Aber bisher sieht es nicht danach aus", sagt Tamer Alhaddad. "Deswegen möchte ich hier bleiben." Und dafür arbeitet er hart, saugt die Sprache förmlich auf. Gleichzeitig steht er in engem Kontakt zu seiner Familie. Seine Eltern, seine Schwester, sie sind in Syrien. "Sie sagen manchmal, dass heute kein guter Tag war. Aber was passiert ist, sagen sie nicht. Das sehe ich dann im Internet." Erst an Heiligabend wurde sein Heimatort erneut mit Raketen beschossen. Er schaut auf den Tisch, auch Aman Yowhans Zeru senkt seinen Blick.
Zeru sah sich im Oktober 2014 gezwungen, Eritrea zu verlassen. Allein wegen der politischen Unruhen in dem Land hat das Auswärtige Amt lange schon Reisewarnungen ausgesprochen. Zu Fuß machte er sich mit vier Freunden auf den Weg in den Sudan – auch Teile dieses Landes definiert das Auswärtige Amt als lebensgefährlich – zog dann weiter an die Grenze zu Libyen, traf dort einen Schlepper. Dieser verlangte 1600 US-Dollar von ihm und brachte den jungen Mann mit gut 80 weiteren Flüchtenden in einem Lkw über die Grenze, teilte sie dann auf drei Pick-ups auf.
"Es gab zu wenig Platz für uns alle", sagt Zeru. Kleidung, Essen, sogar ihre Getränke mussten sie zurücklassen. Vier Tage ging die Fahrt so weiter. "Es waren auch Kinder und Frauen dabei", sagt der 21-Jährige. "Wer von ihnen weinte, wurde von den Schleppern geschlagen. Und wir konnten nichts tun." Denn die Schlepper waren bewaffnet und die Flüchtenden auf der Fahrt durch Krisengebiete auf sie angewiesen.
Kurz vor ihnen wurde eine Schlepper-Gruppe von Kämpfern des sogenannten Islamischen Staat aufgegriffen. Mit einem Gebet mussten sie unter Beweis stellen, Muslime zu sein. Wurden sie als Christen identifiziert, wurden sie getötet. "Die Schlepper haben an der Grenze zu Libyen schon gesagt, dass wir Kreuze oder Bibeln nicht dabei haben dürfen. Es ist zu gefährlich", sagt Zeru, der Christ ist. In Libyen bestieg die Gruppe ein Schlauchboot, das sie nach Italien brachte. "Meine Cousine ist 2016 auf der Strecke ertrunken", sagt Zeru leise. Das Boot, in dem sie saß, kenterte. Der 21-Jährige, damals noch Schüler, hatte Glück: Er kam sicher in Italien an, machte sich mit dem Zug auf den Weg nach Deutschland, nach Bayern. Von dort aus ging es weiter in ein Flüchtlingswohnheim in Heidelberg, dann nach Villingen.
In Eritrea hatte er die 12. Klasse besucht, seine Zeugnisse hatte er auf seine Flucht nicht mitgenommen. Innerhalb kurzer Zeit lernte er Deutsch, machte den Hauptschulabschluss. Seit knapp einem Jahr lebt er nun in Bad Dürrheim. "Natürlich vermisse ich meine Familie", sagt er. "Das Leben ist schwer, getrennt von ihnen. Aber ich habe keine Wahl. Die Situation in Eritrea ist schlecht." Also arbeitet auch Zeru hart an seinem neuen Leben. In einer Firma in Villingendorf ist er tätig, hat sich dort bewiesen, beginnt im kommenden Herbst seine Ausbildung zum Verfahrensmechaniker. "Ich gehe morgens um 5 Uhr zur Arbeit und komme um 19 Uhr zurück", sagt der ehrgeizige junge Mann, der auf öffentliche Verkehrsmittel für seinen langen Weg zur Arbeit angewiesen ist. "Ich suche deswegen dringend eine Wohnung in der Nähe von Villingendorf", sagt er.
Flüchtlingsunterkünfte
- 27 Personen wohnen im Albert-Schweitzer-Haus.
- Weitere sind in Wohnungen in der Gesamtstadt untergebracht.
- Die Stadt erwarb zudem ein Gebäude in der Hofstraße, das vorrangig auch als Unterbringung dienen soll.