„Als ich 15 war, war Krieg“ – mit diesen Worten begann jüngst ein Gedenkabend in der Singener Theresienkapelle in einer Zeit, in der Jugendliche anderswo auf der Welt ähnliche Erfahrungen machen müssen. Vor über 75 Jahren wurde die Kapelle eingeweiht, daran sollte die Veranstaltung erinnern. Der damals 15-Jährige, an den die szenische Lesung erinnert, heißt Günther Fleckenstein. Es ist mittlerweile über 80 Jahre her, dass er die Einberufung bekommen hat.

Mit 18 Jahren in den Krieg

Mit erst 18 Jahren hat er sich freiwillig zum Heer gemeldet, weil er sich zuvor dem Beitritt zur Hitlerjugend entzogen hatte. Seine Mutter sei entsetzt gewesen, schließlich war der ältere Bruder da schon in Russland gefallen, erinnert Fleckensteins Tochter Catharina. Sie hat gemeinsam mit ihrer Schwester Franziska die Aufzeichnungen des Vaters von seinem Aufenthalt in Singen als Kriegsgefangener bearbeitet. Gemeinsam mit Schauspieler Wolfgang Gellert lies Catharina Fleckenstein die Erinnerungen nun wieder aufleben.

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„Mensch Sein“ haben die Töchter das Werk aus den Aufzeichnungen ihres 2020 verstorbenen Vaters genannt. Es sind Notizen, die Günther Fleckenstein erst im hohen Alter niederschrieb. Seine Töchter Catharina und Franziska Fleckenstein, die als Regisseurinnen arbeiten, haben diesen Nachlass nun eigens für das Jubiläum der Theresienkapelle als szenische Lesung inszeniert.

Als Kriegsgefangener nach Singen

Mit 22 Jahren kam Günther Fleckenstein ins Depot 231 nach Singen. Hinter dem Stacheldraht waren zuvor während der NS-Diktatur ukrainische Zwangsarbeiter untergebracht. Dann kam die Kapitulation und Fleckenstein kam nach Singen. Kommandant war Capitaine Jean de Ligny.

Wolfgang Gellert sowie Catharina und Franziska Fleckenstein (von links) haben die Geschichte der Theresienkapelle aus der Sicht des ...
Wolfgang Gellert sowie Catharina und Franziska Fleckenstein (von links) haben die Geschichte der Theresienkapelle aus der Sicht des Theaterregisseurs Günther Fleckenstein neu beleuchtet. | Bild: Susanne Gehrmann-Röhm

Wolfgang Gellert ließ in der Lesung den Weg zum Musterlager, wie ihn der Kommandant wollte, lebendig werden: Gewächshaus, Duschen, zahnärztliche Station, ein Chor, eine Tanzkapelle, eine Fußballmannschaft und eine Theater- und Artistengruppe gehörten dazu. Und vieles mehr. „Capitaine de Ligny wollte, dass sie beschäftigt sind, eine Aufgabe haben“.

Günther Fleckenstein wurde Chef des Varieté bis zu seiner Entlassung im Winter 1947. „Im Grunde war das meine erste Intendanz“, hatte Fleckenstein im hohen Alter einmal gesagt. Die Einkünfte der Theateraufführungen, auch im Umkreis von Singen, seien dem Lager zu Gute gekommen.

Capitaine de Ligny hatte den Insassen auch mal eine Woche Urlaub gegeben, damit sie ihre Instrumente holen konnten. Denn im Lager waren sie für das Musikmachen nicht gut ausgestattet. Alle seien wiedergekommen, sie hatten dem Kommandanten dafür ihr Ehrenwort gegeben.

Es fehlte eine Kapelle

Doch Capitaine de Ligny hatte nach der Umwandlung zum Musterlager noch größere Pläne, wurde in der Lesung deutlich. Er wollte etwas Bleibendes schaffen. „Was noch fehlt, ist eine Kapelle“, sagte er zu Pfarrer Härtenstein und legte damit den Grundstein für die Theresienkapelle.

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Mit Wilhelm Gottschalk war ein Architekt unter den Gefangenen, Fritz Horst wurde Bauleiter und der Maler Heinz Ort war für die Innenausstattung in seinem Element. Auch Glocken konnten beschafft werden, wenn auch nur eine mit Sprung aus Engen und eine Kuhglocke aus dem Allgäu. Für die Einweihung am 9. November 1947 reichte das allemal und für Capitaine de Ligny war es der Tag der Erfüllung, denn das Denkmal zur Annäherung und Versöhnung war Realität geworden.

Eine größere Gruppe von Nachfahren des Lagerkommandanten Capitaine de Ligny, darunter vier Töchter, waren aus diesem Grund extra zum Festakt nach Singen gekommen.

Fleckensteins Weg führte zum Theater

Anfang Dezember 1947 wurde Günther Fleckenstein entlassen und fuhr zunächst mit dem Zug in seine Geburtsstadt Mainz. „Der Weg unseres Vaters führte zum Theater, wo er sein Leben lang wirkte“, schloss Catharina Fleckenstein die eindrucksvolle Lesung, bei der die 75-jährige Geschichte der Kapelle noch einmal aus einer besonderen Perspektive beleuchtet wurde.

Die Theresienkapelle in Singen. Ein Förderverein arbeitet für den Erhalt de Mahnmals. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollte die ...
Die Theresienkapelle in Singen. Ein Förderverein arbeitet für den Erhalt de Mahnmals. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollte die Kapelle abgerissen werden. | Bild: Graziella Verchio

Im vergangenen Sommer hatten Catharina und Franziska Fleckenstein Singen zum ersten Mal besucht. Dabei sprachen sie gemeinsam mit Carmen Scheide, der Vorsitzenden des Fördervereins Theresienkapelle, auch mit Rudolf Thoma, der ebenfalls im Lager lebte. Der 97-Jährige konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Feier teilnehmen.

Vor der Lesung hatten Dekan Mathias Zimmermann und Pfarrerin Andrea Fink-Fauser mit Impulsgedanken und einem ökumenischen Segen eingeführt. Das Lied „Lobe den Herren“, sei schon bei der Einweihung der Kapelle vom Gefangenenchor gesungen worden.

Das Lied drücke aus, was Menschen verbindet und tiefer geht als alle Schützengräben, so Fink-Fauser. Heute gelte es auch vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges erst recht, für Frieden und Freiheit einzutreten, deshalb sei die Theresienkapelle heute noch ein Zeichen des Aufbruchs mit Blick nach vorne, so Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler in seinem Grußwort.

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