Wie viel Wahrheit verträgt der Mensch? Dieser Frage geht die Künstlerin Anna Witt in ihrer Video-Installation nach, die im großen Schaufenster des Singener Kunstmuseums zu sehen ist. Junge Menschen erzählen in Interviews, wie die subjektive Wahrnehmung ein überlebenswichtiger Bestandteil des Selbstwertgefühls sein kann.
"Was ist wahr", so lautet der Titel des diesjährigen Kunstpreises der Erzdiözese Freiburg. Allein, dass sich die katholische Kirche mit Künstlern in den Dialog über dieses sperrige Thema begibt, ist eine besondere Erwähnung wert. Hatte sie über fast zwei Jahrtausende die Wahrheit für sich in Anspruch genommen, so zeigt sie mit dieser Ausstellung, dass der Begriff durchaus diskussionswürdig ist.

Indem sie die Debatte über die Grundthemen der Gesellschaft, Wissenschaft und persönliche, existenzielle Fragen eröffnet, rückt sie wieder näher an die Menschen heran. Die Bereitschaft zur Frage ist ein großer Schritt. Die Schau sei in Zeiten von Fake-News und des Postfaktischen ein Beispiel für die Erneuerung von Kirche und Kunst heute, ist denn auch Oberbürgermeister Bernd Häusler bei der Eröffnung überzeugt. Der Dialog über Werte und Vorstellungen werde auf Augenhöhe geführt.
Schwere Kost? Nein, keine Angst
Die Frage nach der Wahrheit ist also eine philosophische Auseinandersetzung, in die sich die Künstler begeben haben. Harte Kost? – Nein, keine Angst: Der Spaß, die Ironie, die Spielerei, das Experiment kommen dabei nicht zu kurz. Als Betrachter kann man eine solche Vielfalt erleben, dass ein paar Stunden ganz schnell verstrichen sind. Nur ein bisschen Neugier ist nötig, um die verschiedenen Formen der Wahrheit zu erleben.

Den erhobenen Zeigefinger wird man vergeblich suchen. Die Ausstellung ist vielmehr eine Selbsterfahrungsreise, weil die unterschiedlichen Arbeiten der 19 Künstler eine direkte Reaktion des Betrachters auslösen.
Lächeln in der Wahlkabine
Da ist zum Beispiel die "Wahlkabine" von Alexander Peterhaensel, in der der vermeintliche Wähler zu einem Lächeln aufgefordert wird. Anhand der Gesichtsanalyse wird dessen politische Haltung ermittelt. Ob das Ergebnis der Wahrheit entspricht, muss der Besucher selbst entscheiden.

Auch Michael Rieken und Stefan Demming setzen mit ihrer Klang-Licht-Installation "Ich Orgel" auf Interaktion. Am Boden liegende Lautsprecher und Glühbirnen sind miteinander verbunden und reagieren auf Klänge von Johann Sebastian Bach bis Olivier Messiaen. Doch nicht im Sinne einer Lichtorgel, sondern nach einem Zufallsprinzip.
So erlebt der Kunstfreund eine ganz eigene, neue Wahrnehmung, gewissermaßen die eigene Wahrheit. Bei Carola Faller-Barris' "Tellergericht" muss der Betrachter entscheiden, ob Allerweltssprüche wie "Jeder ist seines Glückes Schmied" der Wahrheit entsprechen.
Kein Freibrief für Lügen und Fälschungen
Die gedanklichen Anregungen sind vielfältig. Es macht Freude, sich darüber auszutauschen. Und schon ist man mittendrin in der Suche nach der Wahrheit. Die beste Erkenntnis, die man dabei haben kann, ist die, dass es keine alleinige Wahrheit gibt. Aber Achtung: Das ist kein Freibrief für Lügen und Fälschungen. Die Schau ist vielmehr geeignet, die Sinne für das Echte zu schärfen.
"Die Sehnsucht nach Wahrheit holt uns immer wieder ein", erklärt Isabelle von Marschall, die die Ausstellung betreut hat. Das Problem der heutigen Generation ist doch, dass eine Fülle der Informationen nur schwer überprüfbar ist.

Museumsleiter Christoph Bauer verfolgt mit der Ausstellung konsequent seinen museumspädagogischen Ansatz, indem er Begleitveranstaltungen anbietet. Zum Beispiel einen philosophischen Workshop für Kinder zwischen sechs und zehn Jahren. Sie sollen den kritischen Umgang mit Informationen und vermeintlichen Wahrheiten lernen. Exkursionen, Vorträge und Diskussionen sind ebenso vorgesehen.
Werkschau in Galerie Vayhinger
Passend zum Thema und ergänzend beschäftigt sich auch die Galerie Vayhinger in der Schaffhauser Straße mit der Wahrheit. Helena und Werner Vayhinger erlauben dem Künstler Claude Wall in der Auseinandersetzung mit dem Protestantismus einen ironischen Diskurs. So zum Beispiel, wenn er einen Playmobil-Luther in ein Spielzeugauto setzt und auf einen Kupferstich der thüringischen Wartburg schauen lässt. Oder wenn er einen Schwaben-Globus aufstellt. Ein Schmunzeln ist immer dabei. Und so lernen wir, dass es bei der Wahrheit auch auf das Auge des Betrachters ankommt.
Der Kunstpreis
Zum vierten Mal hat die Erzdiözese Freiburg den Kunstpreis ausgelobt. Diesmal unter dem Titel "Was ist wahr". Eine neunköpfige Jury hat aus 914 eingereichten Arbeiten 19 ausgewählt, die jetzt bis zum 31. März 2019 im Singener Kunstmuseum gezeigt werden. Zuvor wurde sie im Freiburger Monat-Institut gezeigt. Von Singen aus wandert die Schau in die St. Bonifatius-Kirche nach Mannheim, wo am 2. Juni die ersten drei Preisträger gekürt werden. (gtr)