Es waren nur 20 Minuten pro Woche. Aber die fühlten sich länger an als die restlichen 10.060 Wochenminuten zusammen. Ja, als Kind habe ich einkaufen gehasst! Eingesperrt auf diesem harten Plastiksitz, die Beine hilflos über Milchflaschen, Bananen und Maultaschen-Packungen baumelnd, habe ich meiner Mutter die Ohren vollgejammert – während sie mich durch die Gänge schob. Wenn ich schon unter unseren Supermarkt-Besuchen leiden musste, sollte sie das auch. Im Nachhinein betrachtet, waren das finstere Momente.
Aber, wenn ich zurückblicke, erinnere ich mich auch an einen Lichtblick. Eine Strategie, die meine Mutter zum Einsatz brachte, wenn sie wusste, dass erst die Hälfte der Einkäufe, der gelangweilte Junior im Wagen vor ihr aber bereits vollkommen erledigt war. In diesen Augenblicken zog sie ihre Wunderwaffe: Sie schob mich zur Wursttheke – und damit ins Paradies. Denn anders als himmlisch kann man jenen Moment nicht beschreiben, in dem eine Fleischwaren-Verkäuferin einem lächelnd eine Scheibe Lyoner schenkt. Eine Scheibe Erlösung. Kostenlos, lecker und vor allen Dingen ablenkend. Wie schön das war!
Heute bin ich fast 30 Jahre alt. Meinen Einkaufswagen schiebe ich selbst und einkaufen ist zu einer erschreckend unemotionalen Aktivität verkommen. Aber manchmal, wenn ich an der Wursttheke vorbeikomme, dann denke ich an diese Tage zurück. Nie hat eine Scheibe Lyoner besser geschmeckt als im Alter zwischen drei und zehn Jahren. Schade, dass sich die Uhr nicht mehr zurückdrehen lässt. Für die fleischgewordene Erlösung einer kostenfreien Lyoner-Scheibe würde ich mich glatt noch mal in einen dieser Plastiksitze zwängen. Umso größer war mein Schock, als ich letzte Woche erfuhr: Das muss man gar nicht.
Dreistigkeit siegt
Während ich nach dem Bezahlen gerade dabei war, Wurstwaren und Geldbeutel zu verstauen, hörte ich, wie die etwa 70 Jahre alte Dame hinter mir die Verkäuferin anherrschte: "Entschuldigung – normalerweise bekommt man hier doch eine Scheibe Wurst!" Die Verkäuferin wirkte verdattert, als sie der Frau daraufhin ein halbmondförmiges Stückchen Gratis-Lyoner über die Theke reichte. Trotzdem dürfte sie nicht halb so bescheuert ausgesehen haben, wie der zur Salzsäule erstarrte 29-Jährige daneben.
Mittlerweile ist eine Woche vergangen. Aber richtig verstanden habe ich immer noch nicht, was da passiert ist. Muss man sich einfach nur wie ein Kind verhalten, um wie ein Kind behandelt zu werden? Hat der Dame die Scheibe Lyoner so gut geschmeckt, wie mir damals auf meinem Plastiksitz? Liegt das Geheimnis ewiger Jugend in den Wursttheken dieser Welt verborgen? Antworten gibt es nur, wenn man dem Beispiel der wurstgierigen Frau folgt. Seit Tagen bereite ich mich mental auf den nächsten Supermarkt-Besuch vor. Und zum ersten Mal in meinem Leben freue ich mich aufs Einkaufen!