Heute früh hat ihn sein Mädchen verlassen. „Den Tag über habe ich mich selbst behandelt", erzählt der Mann am Mikrofon. Erst habe er versucht, sein gebrochenes Herz mit Schnaps zu kurieren. "Dann mit Pillen, dann wieder mit Schnaps." Aber jetzt sei es spät und er in einer dunklen Bar am Ende einer noch dunkleren Straße angekommen. Klaus Wagenleiter lässt tröpfchenweise ein paar leise Töne auf seinem Steinmann-Klavier erklingen, während Curtis Stigers zu singen beginnt: „It’s quarter to three. There’s no one in the place – except you and me." Die Augen geschlossen, nimmt der 52-Jährige die Zuschauer mit hinein in die schummrige Kneipe, die bis auf den Barkeeper, Joe, ausgestorben ist.
Das Publikum in der Stadthalle hört gebannt zu. Die Mitglieder der SWR Big Band, die in der vergangenen halben Stunde Schlagzeug-, Gitarren- und Bläsersalven abgefeuert haben, lehnen sich in den Sitzen hinter Stigers zurück. Sie lauschen der Geschichte von Joe und seinem einsamen betrunkenen Gast: "You'd never know it – but buddy I'm a kind of poet", singt der sich Mut an. Stigers sonst so samtene Stimme klingt auf einmal rauer. Und: Sieht es nur so aus, oder fängt der Sänger tatsächlich leicht zu wanken an?
Joe will schließen, aber Stigers bittet singend um ein letztes Getränk. Nur noch eins. Oder vielleicht doch besser zwei? Eins, um auf die Verflossene anzustoßen, und eins für den Nachhauseweg: "One for my baby – and one more for the road." Stigers hält dieses letzte Wort, bis es nur noch als ein Hauchen zu hören ist, das allmählich verebbt. Ob der Protagonist seine Drinks oder vielleicht am Ende sogar sein Baby zurückbekommen hat, bleibt offen.
Traurig und sexy – diese Kombination sei irgendwie sein Ding, verrät Curtis Stigers schon zu Beginn seines Konzerts in der Singener Stadthalle. In den nächsten 120 Minuten beweist der Sänger aus dem US-Bundesstaat Idaho aber, dass er noch weit mehr kann. Unterstützt von den 17 Musikern der SWR Big Band swingt sich der Mann mit den weiß-grauen Haaren durch das große amerikanische Liederbuch. Von George Gershwin über Cole Porter bis zu Bob Dylan. Mal schnippt Stigers lässig im Takt, mal steuert er Saxofon-Soli bei. Und manchmal – so wie bei der Eigenkomposition "Hooray for Love" – muss er das Mikrofon einen halben Meter von sich weg halten, damit er nicht das Orchester übertönt.
Ein Mann singt seine Lebensgeschichte
Ähnlich wie der Brite Robbie Williams fühlt sich Curtis Stigers, der Anfang der 90er Jahre mit Pop- und Soul-Songs bekannt wurde, dem "Rat Pack" um Frank Sinatra verbunden. Das wird in Singen nicht nur an dem orchestralen von Blechbläsern dominierten Klang deutlich: Auch die violettfarbene Bühnendeko lässt sich als Hommage an die späten 1960er-Jahre deuten – jene Zeit, in der Sinatra regelmäßig in den Kasinos von Las Vegas auftrat. Stigers erklärt seinen Zuhörern, was ihn an seinem Vorbild fasziniert: "Er hat nie auch nur einen Song selbst geschrieben – aber, die Lieder, die er gesungen hat, hat er zu seinen Liedern gemacht", betont der Amerikaner. "Sie wurden zu seiner Lebensgeschichte."
Die Fähigkeit, Geschichten glaubwürdig und unterhaltsam zu erzählen, scheint Sinatra an Stigers vererbt zu haben. Wenn man sich "The Voice" als Familienoberhaupt vorstellt und Robbie Williams als das aufgedrehte jüngste Mitglied der Showman-Family, dann ist Stigers der entspannte ältere Bruder. Er lässt es sich nicht nehmen, über die Bühne zu tänzeln oder wie bei „I Get a Kick Out of You“ lustvoll in die Luft zu treten. Dabei wirkt der 52-Jährige aber nie, als wäre er auf das Wohlwollen des Publikums angewiesen. Dieses Selbstbewusstsein speist sich aus fast vier Jahrzehnten Bühnenerfahrung. In der Stadthalle lässt Stigers von der ersten bis zur letzten Sekunde keinen Zweifel daran, dass er genau weiß, was er tut. Da wirkt es nicht einmal albern, wenn der Sänger über seine Vorliebe für "Spätzle" plaudert oder während "You Make me Feel so Young" einen Strauß unsichtbarer Vergissmeinnicht pflückt.
Und: Stigers weiß sich zurückzunehmen. Am Anfang, in der Mitte und gegen Ende des Programms überlässt er der Big Band die Bühne, wofür sich die Instrumentalisten mit fetzigen Soli bedanken. Ein Höhepunkt: als Decebal Badila seine Finger in unglaublichem Tempo über die Kontrabass-Saiten flitzen lässt. Nicht zu überbieten, ist dann aber der Moment, in dem Stigers sein bekanntestes Lied anstimmt. Schon als die ersten Akkorde von "I Wonder Why" zu hören sind, zücken die Zuschauer ihre Smartphones hervor. Auch, wenn der Sänger das Lied schon hunderte Male gesungen haben muss, ist die emotionale Wucht greifbar. Stigers singt nicht irgendetwas. Er singt seine Lebensgeschichte.
Warum er der Popwelt den Rücken gekehrt hat, verrät Curtis Stigers im Interview mit dem SÜDKURIER.
Die SWR Big Band
Viermal wurden die 17 Instrumentalisten der SWR Big Band für den amerikanischen Musikpreis Grammy nominiert. Eine weitere Ehre wurde den Musikern um Pianist Klaus Wagenleiter beim "Prêmio da Música Brasileira" zuteil: Als erste deutsche Band wurden sie für einen der bedeutendsten Musikpreise Brasiliens vorgeschlagen. Mit Curtis Stigers trat die Band zum ersten Mal vor sechs Jahren auf. Das Premierenkonzert fand damals in Stuttgart statt. (das)