Bei der Pflege eines Angehörigen ist es manchmal wie bei einer Suchtproblematik in der Familie: Erst wenn die Situation drängend oder bedrohlich wird, schaut man sich nach Beratung oder Hilfe um. „Ich kann nicht mehr“, zitierte Friedhelm Niewöhner aus einem Anruf einer unter Tränen stehenden Frau in der Geschäftsstelle des Seniorenrates, die ihren dementen Mann pflegte. „Dann brach sie mehr oder weniger am Telefon zusammen“, so Niewöhner.
Doch so weit braucht es nicht zu kommen, wenn man das Beratungsangebot des Pflegestützpunkts in Radolfzell kennt. „Sehr viele Hilfeleistungen, die die Pflege zu Hause entlasten könnten, verfallen, weil sie gar nicht erst abgerufen werden“, erläuterte die Leiterin des Pflegestützpunkts, Pia Faller. Dass solch ein Pflegestützpunkt in Radolfzell für Beratungen überhaupt existiert, wussten nur drei Personen in der Sitzung des Seniorenrats – so die ernüchternde Bilanz einer spontanen Umfrage.
Weitere Zuwendungen ergänzen das Pflegegeld
„Einen Blumenstrauß an Hilfen“ nennt Pia Faller die Leistungen, die es bereits ab dem Pflegegrad zwei gebe. Sie seien keine Almosen, sondern ein gesetzlicher Anspruch, der mit der Bestimmung des Pflegegrads wirksam werde. Neben dem Pflegegeld, das für diejenigen bestimmt sei, die bei der Pflege helfen, könnten Sachleistungen für einen ambulanten Pflegedienst in Anspruch genommen werden, erläutert Pia Faller: Beides würden die meisten Menschen nutzen.
Doch darüber hinaus gebe es noch einen Entlastungsbetrag von 125 Euro, den man für Fahrdienste nutzen könne, beispielsweise für eine Begleitung zum Arzt, zum Friseur oder zum Einkaufen. Auch stünden 40 Euro monatlich für Pflegehilfsmittel bereit. Sie seien nicht für einen Rollator gedacht, sondern für Desinfektionsmittel, Gummihandschuhe oder saugende Bettschutzeinlagen. Einen weiteren Geldtopf gebe es für eine Tagespflege. Dort könnten Angehörige zwei bis drei Mal in der Woche untergebracht werden. Dies entlaste den Pflegenden, der in der Zwischenzeit seiner Arbeit nachgehen kann.
Unterstützung bei einer Auszeit oder Wohnumbauten
Wenn Pflegepersonen eine Auszeit bräuchten, so gebe es die Möglichkeit von einer Verhinderungspflege im Wert von 1612 Euro. Im selben Wert hätte man auch Anspruch auf eine Kurzzeitpflege im Pflegeheim, so Faller. Stehe für Angehörige die Kurzzeitpflege außer Betracht, so könne man die Hälfte dieses Betrags in Verhinderungspflege umwandeln. „Schon stehen einem 2400 Euro zu Verfügung“, erklärt Pia Faller. Des Weiteren gebe es Zuschüsse für Wohnumbauten von bis zu 4000 Euro.
Das sei, grob umrissen, der Blumenstrauß an Leistungen, den man Angehörigen nahe bringen könne, wenn sie sich am Limit befinden und eine Unterstützung brauchen, so Faller: Hierfür bietet sie eine Beratung im Pflegestützpunkt ebenso an wie die Vorbereitungen zur Bestimmung des Pflegegrads.
Stützpunkt berät beim Antrag auf einen Pflegegrad
Beantragt man einen Pflegegrad, so wendet man sich an seine Pflegekasse. Das seien in der Regel die Krankenkassen, erläutert Faller: „Sie schicken einen Selbstauskunftsbogen.“ Wichtig sei, diesen Punkt für Punkt durchzugehen – am besten mit einer Beratung. Zudem sollte den Menschen Mut zugesprochen werden, dass sie den Hilfebedarf zugeben.
Pia Faller macht auf die Feinheiten bei der Antragsstellung des Pflegegrads aufmerksam: So gebe es beispielsweise einen signifikanten Unterschied, ob Menschen alleine ihre Zähne putzen und ob sie die Vorbereitungen alleine erledigen können. Solche Feinheiten schlagen sich in die Bewertung des Pflegegrads nieder.
Hilfe auch bei Widerspruch gegen das Pflegegutachten
Der Antrag wird an die Kasse gesendet. Diese beauftragt den medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK) mit Sitz in Villingen-Schwenningen mit der unabhängigen Begutachtung. Anhand von Beispielen erfragt der MDK in einem Gespräch den Grad an Erinnerungsfähigkeit und Gedächtnisleistung. Das Gutachten hat sechs Module, mit rund 100 Fragen werden Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, psychische Gesundheit oder der Grad der Selbstversorgung erfasst.
Faller empfiehlt Angehörigen zur eigenen Dokumentation ein Pflegetagebuch zu schreiben und es dem Gutachter mitzugeben, wenn man Angehörige im Gespräch mit dem Gutachter nicht bloßstellen möchte. Widersprüche zum Gutachten müssen selbst bei der Kasse eingereicht werden. Anhand der Begutachtungsrichtlinie unterstützt der Pflegestützpunkt bei der Begründung.
Viele Betroffene bitten erst spät um eine Beratung
Wenn man wissen möchte, welche Anbieter von Essen auf Rädern oder ambulanten Pflegediensten es am Wohnort gibt, kann man Anfragen an den Pflegestützpunkt richten. Meist würden sich die Betroffenen erst melden, wenn das Kind in den Brunnen gefallen sei, so Faller: man wurschtele sich durch. Doch dann käme ein Sturz mit Oberschenkelhalsbruch. Es folgt ein Krankenhausaufenthalt. „Und dann geht es nicht mehr so wie vorher“, so Faller. Plötzlich brauche man Hilfe. Es würden sich die Betroffenen selbst oder deren Angehörige am Stützpunkt melden.
Inzwischen setzt sich der Pflegestützpunkt mit den Betroffenen zusammen. Er telefoniert, beantwortet Fragen per E-Mail oder macht Hausbesuche. Und er informiert, welche Bausteine es für die Versorgung gibt – mit dem Ziel, möglichst lange zuhause wohnen bleiben zu können. Ebenso berät der Pflegestützpunkt über Vorsorge und Vollmachten, ehe Betreuer das Management übernehmen oder Ärzte die Auskunft selbst an Ehepartner oder Kindern verweigern. „30 Jahre Ehe heißt nicht zwangsläufig 30 Jahre gute Ehe“, so Pia Faller: Der Datenschutz schütze auch hier den Betroffenen, wenn vorab keine Vorsorge getroffen wurde.
Patientenverfügung an Corona-Bedingungen anpassen
Eine Infektion mit dem Corona-Virus kann bei älteren Risikopatienten zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen und erfordert in schweren Fällen eine intensivmedizinische Therapie, beispielsweise die Beatmung des Covid-19-Patienten. Jedoch lehnen Menschen in ihrer Patientenverfügung eine künstliche Beatmung am Lebensende ab. Daher empfiehlt der Kreisseniorenrat eine Anpassung der Patientenverfügung. Er hält einen für die Pandemie entwickelten Zusatzbogen bereit, der in der Geschäftsstelle des Seniorenrates erhältlich ist. Die aktualisierte Vorsorgemappe gibt es auch im Internet.