Als Stift verdiente Christian 450 Euro brutto im Monat, musste drei Jahre vor allem Felgen polieren und fuhr jeden Tag um 6 Uhr morgens mit dem Roller zur Arbeit, Winter wie Sommer. Geil war’s nicht, sagt er heute, aber schon in Ordnung, er wusste ja auch nicht, was er sonst hätte machen sollen.
Für viele ist das Abitur alternativlos
Leonie schleppte sich zur selben Zeit durch das erste Semester an der Uni München. Dass sie mal studieren würde, war für sie und vor allem für ihre Eltern selbstverständlich. Für den Abi-Schnitt von 2,3 hatte sie sich acht Monate vor der ersten Prüfung mit diversen Nachhilfelehrern ins Lern-Exil verabschiedet. In Deutsch und Englisch war sie gut, da lag es nahe, das auf Lehramt zu studieren. Nach 12 Semestern hatte sie das erste Staatsexamen in der Tasche und auf das zweite keine Lust mehr. Lehrerin wollte sie jedenfalls nicht werden.
Stattdessen machte sie ein Praktikum in Südamerika, jobbte sich durch halb Köln und überlegt bis heute, ob sie promovieren soll. Christian machte in der Zwischenzeit die Lehre fertig, dann das das Fachabitur und ein duales Studium. Nach 34 Bewerbungen bekam er einen Job und ist heute Abteilungsleiter im Einkauf bei einem Autoteilezulieferer.
Mit dem Abitur "wird was aus dir"
Das Gymnasium symbolisierte für sie die Eintrittskarte in eine gute, sichere Welt, mit Garantie auf ein späteres Einkommen der oberen Mittelschicht, damit „mal was aus ihr wird“. Und für diese Eintrittskarte geben Eltern heute alles. Eine Gymnasial-Lehrerin aus dem Kreis Konstanz erzählt, dass sie von Eltern auch schon mal bedroht wurde, als sie empfahl, den gebeutelten Sohn doch bitte auf die Realschule wechseln zu lassen, er würde hier nicht glücklich. Die Antwort der Eltern: „Sie zerstören das Leben unseres Sohnes“.
Eine andere Lehrerin erzählt, dass in jeder ihrer Gymnasialklassen etwa fünf Kinder sitzen, die völlig fehl am Platz sind.
Die Hälfte der Studierenden hat kein klassisches Abitur
Viele Eltern sind so auf das Gymnasium fixiert, dass sie von alternativen Möglichkeiten gar nichts wissen wollen. Dabei ist das deutsche Schulsystem so durchlässig wie nie, und wer Abitur machen möchte, kann das nicht nur auf dem Gymnasium machen.
Wer wie Christian eine Lehre absolviert, darf nach drei Jahren im Beruf fachgebunden studieren; Leute, die ihren Meister gemacht haben, dürfen sogar alles studieren. An der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung Konstanz (HTWG) hat die Hälfte kein Abitur.
Auf dem zweiten Bildungsweg gibt es alle Möglichkeiten, ein Studium, eine Zusatzqualifikationen und einen Berufswechsel zu erlangen. Und die Motivation der Schüler dort ist naturgemäß höher. Für Christian war alles, was danach kam, nochmal eine Bestätigung oben drauf. Der Weg war holprig, aber genau deshalb ist er heute erfolgreich: Weil er ein gutes Gespür hat, was man nicht in der Schule oder der Uni lernt.
Zu viele Studenten? Chancengleichheit!
Dass das Bildungssystem durchlässiger geworden ist, ist gut so. Das muss gesagt werden, denn es gibt genügend, die das nicht so empfinden. Die sagen: Es werden zu viele Studenten, wir müssen das stoppen. Diese Kritik kommt zum einen von einer gealterten Bildungselite, die sich angesichts der studierenden Heerscharen entwertet fühlt, gleichzeitig aber für ihre eigenen Kinder ganz selbstverständlich das Abitur einfordert.
Darunter sind gerade auch Lehrer, Professoren und Ingenieure, die sich in eine Zeit zurücksehnen, in der das „1,0-Abitur noch was wert war“. Willkommen in einer chancengleicheren Gegenwart. Und einer veränderten Berufswelt.
Eine Berufswelt, in der Stellen, die früher von Leuten mit Volksschulabschluss besetzt wurden, heute ein Bachelorabschluss Bewerbungsvoraussetzung ist. In der Dreher nicht mehr nur mit dem Fräser arbeiten, sondern Maschinen programmieren müssen. Fast alle Berufsfelder wurden durch die Digitalisierung verändert und sind anspruchsvoller geworden.
Und was die Verdienste betrifft, ist das wenig überraschende Ergebnis, dass das Einkommen mit der Bildung steigt: Der mittlere Verdienst eines Hochschulabsolventen liegt laut dem Stepstone-Gehaltsreport 2016 bei 43.886 Euro Euro im Jahr, der eines Fachhochschülers bei 42.356 Euro. Als Meister verdient man in Deutschland im Mittel 36.000 Euro brutto (Speziell in Baden-Württemberg aber 44.172 Euro). Abiturienten ohne nachfolgende Ausbildung oder mit abgebrochener Ausbildung bekommen 34.860 Euro.
Mit abgeschlossener Lehre verdient man im Mittel 28.920 Euro; mit einem Hauptschulabschluss 25.200 Euro. (Quelle: Gehalt.de)
Gymnasium ist keine Vollkaskogarantie
All das sind gute Gründe, warum Eltern so schnell wie möglich den höchsten Bildungsgrad für ihre Kinder wollen. Aber das Gymnasium ist kein Automat, an dem man das Kind in der fünften Klasse oben reinsteckt und unten kommt ein fertiger Erwachsener mit Abitur und Vollkaskogarantie auf einen Dienstwagen heraus. Während die Viertklässler langsam beginnen, ihr eigenes Koordinatensystem zu bauen, müssen sich Eltern genau dann von den eigenen Vorstellungen für ihr Kind verabschieden.
Das ist nicht einfach, aber genau das ist eben auch Elternliebe. Leonie hat ihren Eltern ein halbes Jahr nicht gesagt, dass sie nicht Lehrerin wird. Sie haben versucht, sich nicht so viel anmerken zu lassen, aber enttäuscht waren sie schon, erzählt Leonie. „Dabei bin ich glücklich, so wie es jetzt ist.“