Bilge Menekse sitzt am Flughafen Hatay in der Türkei. Zu ihrem Gepäck gehört ein Rucksack. Mit dem hat es eine besondere Bewandtnis, aber dazu später. Während 36-Jährige auf ihren Flug wartet, unterhält sie sich per Videoanruf mit ihrer Schwester in Deutschland. Plötzlich bebt die Erde. Es ist 20.04 Uhr Ortszeit am 20. Februar 2023.

Menekses Schwester ist schockiert. Drei Zeitzonen entfernt bekommt sie alles live mit: Die Menschen schreien, weinen. Später erfahren die beiden Frauen, dass das Erdbeben die Stärke von 6,4 auf der Richterskala hatte. Es ist das zweite große Beben nach den katastrophalen Erschütterungen am 6. Februar im türkisch-syrischen Grenzgebiet.

Beben rüttelt Kindheitserinnerungen wach

„Ich habe das schon mal erlebt, im August 1999“, sagt Bilge Menekse. Sie war noch ein Kind und zu Besuch bei Verwandten in der Türkei. Das Erdbeben hatte ein Stärke von 7,6. Wie es den Menschen nach den Beben im Februar 2023 geht, kann die gebürtige Villingerin daher gut nachvollziehen. „Wir haben damals eine Woche draußen geschlafen“, erzählt sie.

Zu einem Teil hat sie dieses Erlebnis auch zu ihrem Beruf geführt. Die studierte Politologin ist bei der Katastrophenhilfe der Diakonie beschäftigt. Von Amman in Jordanien aus betreut sie seit ein paar Jahren die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen in der gesamten Region.

Verteilung von Winterkleidung, Decken und Matratzen.
Verteilung von Winterkleidung, Decken und Matratzen. | Bild: Diakonie Katastrophenhilfe

Eine Woche nach den Verwüstungen am 6. Februar ist sie in der Türkei im Einsatz. Die Helfer rotieren: Alle paar Tage wechseln die Orte oder es geht für kurze Zeit raus aus dem Katastrophengebiet. Deshalb ist Bilge Menekse am 20. Februar am Flughafen.

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Auch die Menschen um sie herum, machen die gleichen Ängste bereits zum zweiten Mal durch. Viele warten auf einen Evakuierungsflug, wollen eigentlich weg von Nachbeben, Zerstörung, Tod. Der Flughafen ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vollständig betriebsbereit.

So viele Menschen sind betroffen

„Es gibt fast 50.000 Todesopfer und laut UN 1,5 Millionen Obdachlose“, sagt die Diakonie-Mitarbeiterin. Aber das seien nur offiziell Zahlen unter den Trümmer gebe es noch zahllose Tote. „Das Ausmaß ist immens, wie in einem Kriegsgebiet würde ich sagen.“

Von diesem Haus steht nur noch ein Gerippe.
Von diesem Haus steht nur noch ein Gerippe. | Bild: Diakonie Katastrophenhilfe

Betroffen sei ein riesige Fläche auf der 13,5 Millionen Menschen leben. Tausende Gebäude seien eingestürzt. Das klingt nach einer unlösbaren Aufgabe, aber manchmal kommt es auch auf kleine Unterstützungen an: Zusammen mit anderen Helfern habe sie ein offiziell eingerichtetes Zeltlager besucht. Dort gab es zwar einen Trinkwassertank, den Leuten fehlten aber Behälter, um das Wasser abzufüllen. Das Team habe daraufhin Kanister ausgeteilt.

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Helferin ist ständig in Bewegung

Menekse ist turnusmäßig unterwegs zum nächsten Einsatzort – mit dabei besagter Rucksack. „Zuletzt war ich in Kahramanmaras, jetzt geht es weiter nach Sanliurfa.“ Das Gespräch führt sie vom Auto aus, die Verbindung bricht häufig ab. Vor allem die ersten Tage, Mitte Februar, sei es schwieriger gewesen, bestimmte Regionen zu erreichen. „Ganze Straßen sind kaputt und es gibt keine Hotels mehr“, sagt Menekse.

Die Kurtulus-Straße, eine der Hauptstraßen von Hatay, ist fast vollständig verwüstet.
Die Kurtulus-Straße, eine der Hauptstraßen von Hatay, ist fast vollständig verwüstet. | Bild: Kerem Uzel/Diakonie Katastrophenhilfe

Mehrere Hilfsorganisationen hätten jetzt Wohncontainer für die Mitarbeiter in das Gebiet gebracht. Zwei Schlafzimmer, ein Raum mit Dusche und Toilette für mehrere Helfer. Die Arbeit ist anstrengend, das Leid groß, ein Ende nicht in Sicht.

Was Bilge Menekse antreibt

Was motiviert die gebürtige Villingerin? „Vor Ort sein, direkt anpacken und den Menschen helfen“, beschreibt sie ihren Antrieb. „Allein ein Wort des Dankes oder ein Segenswunsch motivieren.“ Aber das erwarte sie gar nicht.

Bilge Menekse und eine Kollegin bringen die Hilfspakete zu den Menschen in ihren improvisierten Zelten.
Bilge Menekse und eine Kollegin bringen die Hilfspakete zu den Menschen in ihren improvisierten Zelten. | Bild: Kerem Uzel/Diakonie Katastrophenhilfe

Die Erlebnisse in ihrem Beruf haben auch die Sicht auf den Alltag verändert: „Man weiß nie. Jeder kann irgendwann von einer Katastrophe betroffen sein. Durch den Klimawandel haben sich die Verhältnisse auch in Deutschland verändert. Flutkatastrophen waren nicht selbstverständlich.“

Diese Geschichten wird man nicht mehr los

Bilge Menekse ist dicht dran an den betroffenen Menschen. „Manche Gespräche nehmen einen mit“, sagt sie. Zum Beispiel das mit einem Mann in Hatay. Sein Haus ist bei dem Erdbeben eingestürzt. Er rannte zum Haus seines Bruders, auch das war eingestürzt. „Er konnte seinen Bruder unter den Trümmern noch stundenlang schreien hören“, erzählt die 36-Jährige. „Aber er konnte ihn mit bloßen Händen nicht retten.“

So etwas vergesse man nicht, sagt sie.

Erdbebenopfer überprüfen ihr zerstörtes Haus im Buyukdalyan-Distrikt von Hatay.
Erdbebenopfer überprüfen ihr zerstörtes Haus im Buyukdalyan-Distrikt von Hatay. | Bild: Kerem Uzel/Diakonie Katastrophenhilfe

Die Sache mit dem Rucksack

Seit diesem Gespräch und seit sie die unbändige Macht der Erde am 20. Februar selbst gespürt hat, gibt es ein festes Ritual: „Seitdem schlafe ich immer so, dass ich meinen Rucksack griffbereit habe“, sagt Bilge Menekse. Darin: ein Erste-Hilfe-Set, eine Powerbank, eine 0,5-Liter-Wasserflasche und eine Signalpfeife. „Damit ich auf mich aufmerksam machen kann, sollte das Gebäude einstürzen.“

Bilge Menekse in der Kurtulus Straße in Hatay. Wenige Tage später geht es für sie der Einsatz in Sanliurfa weiter. Auch dort ist alles ...
Bilge Menekse in der Kurtulus Straße in Hatay. Wenige Tage später geht es für sie der Einsatz in Sanliurfa weiter. Auch dort ist alles zerstört. | Bild: Kerem Uzel/Diakonie Katastrophenhilfe
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