Ulrike Steiert nimmt eine schwarze Herren-Lederjacke vom Bügel. Ein wenig abgegriffen ist das Kleidungsstück, aber billig war es gewiss nicht. Die ausgebildete Industriesscheiderin, die seit fast 30 Jahren ihre Schneiderwerkstatt an der Josefstraße führt, will an der Jacke die Bündchen austauschen. Rund 50 Euro wird das kosten. „Lederjacken sind Herzenssache“, sagt die gebürtige Ettlingerin aus Erfahrung. Doch bei der Bereitschaft, Kleidungsstücke reparieren zu lassen, bildet dieses Herren-Accessoire eine große Ausnahme.

Die meisten Kleidungsstücke fliegen in den Müll

Tendenziell werde kaum noch repariert, die meisten kaputten Kleidungsstücke fliegen in den Müll oder den Container. „Wer lässt noch einen neuen Reißverschluss in eine Winterjacke einnähen“, stellt Steiert eine eher rhetorische Frage. Niemand investiere 50 Euro in eine 30-Euro-Jacke vom Discounter.

Vorwurf: Discounter verhökern Markenprodukte

„Die Sachen werden immer billiger. Die Leute wollen nichts mehr zahlen“, nennt die Schneiderin eine Entwicklung, die ihr Handwerk angreife. Discountern müsste man verbieten, Markenprodukte zu verhökern, sieht sie die Politik in der Pflicht: etwa indem sie darauf achtet, unter welchen Bedingungen die Produkte hergestellt werden.

Das könnte Sie auch interessieren

Fehlende Wertschätzung für ihr Handwerk zeige auch beim Bezahlen. Mit einem ungnädigen „Sie sind doch in fünf Minuten fertig“ wird sie bedacht, wenn sie ihren Stundenlohn nennt. 43 Euro beträgt er und umfasst die eigene Arbeit, Ladenmiete, Steuerberater, Versicherungen, Nähmaschine samt Reparatur und das Material. Kleidung ist für die meisten Leute zum billigen Gebrauchsgegenstand geworden, so ihre Beobachtung. Und die Schneiderin gehöre nicht in die Riege jener Handwerker, die Waschmaschine, Auto oder Steckdose reparieren oder Haare schneiden. Deren Rechnungen würden nämlich klaglos beglichen.

Welches Garn wird benötigt? Dutzende können Ulrike Steierts Paff-Nähmaschine zugeführt werden.
Welches Garn wird benötigt? Dutzende können Ulrike Steierts Paff-Nähmaschine zugeführt werden. | Bild: Wursthorn, Jens

„Es wird genäht“, kann sie mit Blick auf die Nähkurse bestätigen, die sie anbietet. Cornonabedingt läuft derzeit nur ein alter Kurs, Neuanfänger nimmt sie gegenwärtig nicht an. Genäht wird zwischen sieben und 80: um was für die Kinder oder Dekos zu nähen, oder um die eigene Nähmaschine kennenzulernen. „Aber die Materialien werden nicht bei mir gekauft“, fügt sie an. Mit der Folge, dass sie ihr Kurzwaren-Sortiment reduzieren muss.

Nähmaschine funktioniert seit 20 Jahren

Ihrem Laden sieht man das nicht an. Es ist ein kleines Geschäft mit Schränken und Regalen an den Wänden, in denen sich Bänder, Stoffproben oder Knöpfe vieler Farben, Größen und Materialien stapeln. Zwei Nähmaschinen stehen auf einem Arbeitstisch zentral im Raum. Zentral wie die Beschäftigung der Schneiderin. „Nähen ist mein Ein und Alles. Ohne Nähmaschine bin ich unglücklich“, sagt sie und schwört dabei auf ihre Pfaff-Nähmaschine mit ihrem einzigartigen Doppelstofftransport, die sie in 20 Jahren nie im Stich gelassen habe.

Dicht gestapelt in einem Regal in Ulrike Steierts Schneiderwerkstatt an der Josefstraße: Bänder in vielen Farben und Materialen.
Dicht gestapelt in einem Regal in Ulrike Steierts Schneiderwerkstatt an der Josefstraße: Bänder in vielen Farben und Materialen. | Bild: Wursthorn, Jens

Genäht hat sie schon vor ihrer Ausbildung. Gelernt hat sie beim renommierten Bekleidungsgeschäft Blicker in Karlsruhe. Danach arbeitete sie bei Peek & Cloppenburg. Erworben hat sie sich die Fertigkeiten und Tricks der Änderungsschneiderei. Heute ist nicht mehr viel übrig, was sie aus ihrer Ausbildung braucht. Sakkoärmel macht sie kürzer, Schultern schmäler und Hosen enger. Auch Mäntel kürzt sie. „Da trauen sich viele nicht ran“, sagt sie mit einem Lachen. Gefragt ist ihre Kompetenz auch dann, wenn ein Brautkleid geändert werden muss. Die Änderungsschneiderei, die hohe Kunst, die Bekleidung an die gegebenen Körpermaße anzupassen, hat nur noch bei Events Konjunktur.

Das könnte Sie auch interessieren

Keine Spur von Nachhaltigkeit: Diesen Eindruck kann auch Karin Stiefel bestätigen. Die Schneidermeisterin ist Obermeisterin der Maßschneider-Innung Ulm-Oberschwaben-Bodensee. Junge Frauen wollten nachhaltige Mode für ihre Kinder, so ihre Beobachtung. Gerne ließen sie sich individuelle Dinge nähen. Doch das Interesse schwinde, wenn im ersten Gespräch der Preis zur Sprache komme. Nur die wenigsten kauften tatsächlich gewissenhaft ein. „Ständig wird was Neues gewollt“, so Stiefel. Massenware und Abwechslung sind angesagt, „Ramsch“ wird angeschafft, weil Kleidung gar nicht halten müsse.

Das könnte Sie auch interessieren

Auch Karin Stiefel ärgert sich, dass der Textilbereich von Billigmacherei durchdrungen ist und die Wertschätzung für ihr Handwerk fehlt. Gegensteuern kann sie situationsbedingt. Wie sie nicht auf Änderungen und Reparaturen angewiesen ist, erlaubt sie sich, darauf hinzuweisen, „dass dieser Neun-Euro-Fummel nicht repariert werden kann“. Einen 15 Jahre alten Mantel aber könne sie ändern. Es komme eben auf die Ursprungsqualität an.

Immer weniger Auszubildende

Und der Nachwuchs? Die Obermeisterin führt ihr Maßatelier in Wangen im Allgäu seit 35 Jahren. Während ihrer Ausbildung wurden in der Gewerbeschule Ravensburg drei Klassen parallel zu Schneidern ausgebildet. Heute gebe es im Innungsbereich noch maximal 25 junge Leute pro Jahrgang. „Und die wenigsten bleiben im Beruf“, sagt Stiefel.