Die Corona-Pandemie hat bei Kindern und Jugendlichen viele Spuren hinterlassen. Neben Erschöpfung, Depression und Motivationsproblemen haben auch Essstörungen enorm zugenommen. Eigentlich hatte Schulsozialarbeiterin Angelika Winter am Nellenburg-Gymnasium schon vor der Pandemie Präventionsmaßnahmen dazu im Blick. Jetzt sagt sie: „Mit der Pandemie haben wir eine Vervielfachung. Essstörungen sind plötzlich ein ganz massives Thema.“
Gemeinsam mit Schulleiter Holger Seitz habe sie beschlossen, ein Präventionsprojekt für die Klassenstufe 9 anzubieten. Zwei Expertinnen vom Zentrum für Psychotherapie Bodensee in Konstanz informierten kürzlich an zwei Tagen die Neuntklässler und standen für Fragen zur Verfügung.
Expertinnen sprechen mit den Schülern
Zunächst sprachen Johanna Maier-Karius und Rebekka Haas vor zwei Klassen, eine Woche später vor den drei anderen. Angelika Winter war beeindruckt von der Reaktion der Schüler. „Es war unglaublich interessant und spürbar, wie es ruhiger wurde, wie sich die Körperhaltung veränderte. Sie haben die Kinder wirklich erreicht.“
Nach dem Vortrag hatte jede Klasse die Möglichkeit, mit einer der Expertinnen zu reden. „Wir haben uns bewusst für diese Form entschieden, denn es ist ein sehr schweres Thema und wir wollten, dass die Klassen einzeln mit den Frauen in einem geschützten Rahmen ohne Lehrer und Fachkraft sprechen können“, so Winter.
Manche gehen heimlich, um auf der Toilette zu erbrechen
Sie habe viele Schüler bei sich, denen auffalle, dass sich die Freundin äußerlich und in ihrer Persönlichkeit verändere, oft zur Toilette gehe und dort Geräusche des Erbrechens zu hören seien. „Das bringt Kinder und Jugendliche in große Angst.“ Angelika Winter beschrieb, sie habe Partner gesucht, die die Schule fachlich und finanziell unterstützen. Als Kooperationspartner habe sich die Bürgerstiftung Stockach angeboten. Sowohl sie als auch Lehrerin Susanne Schlemmer, die für die Präventionsarbeit am Gymnasium zuständig ist, und der Schulleiter freuten sich sehr, dass die Bürgerstiftung sich längerfristig einbringen wolle und der Umgang mit Essstörungen so ein fester Bestandteil der Präventionsarbeit werden könne.
Die Suche nach Fachkräften habe sich schwierig gestaltet, so Winter weiter. Doch mit dem Zentrum für Psychotherapie Bodensee sei sie dann schnell in ein gutes Gespräch gekommen. „Johanna Maier-Karius und Rebekka Haas wissen genau, worum es geht und benennen es von sich aus. Ich bin unglaublich dankbar, dass es so läuft. Ich kann jetzt Flyer rausgeben und die Namen haben ein Gesicht bekommen.“
Magersucht bei Mädchen und viel Muskeltraining bei Jungen
Johanna Maier-Karius sagte, die sozialen Medien zeigten eine heile, ideale Welt, die es so nicht gebe. „Trotzdem macht es was mit uns, wir wollen genauso sein, wie die Menschen dort.“ Dabei betreffe Anorexie (Magersucht) vorwiegend Mädchen, während Jungen eher extrem viel trainierten, um möglichst muskulös zu werden. Aus einem gestörten Körperbild entstehe enormer Leistungsdruck, wenn das Leben nur noch um Muskeln, Sport und Aufbauprodukte kreise.
Holger Seitz ergänzte noch den Leistungsdruck Richtung Abitur: „Wenn wir frühzeitig ansetzen, kennen die Schüler in höheren Klassen mögliche Verhaltensweisen, damit sie nicht in die Spirale kommen.“
Expertin lobt die Fragen der Jugendlichen
Die Anfrage des Gymnasiums sei die erste Anfrage einer Schule gewesen, so Maier-Karius. „Es ist großartig, wenn solche Prävention an Schulen gemacht wird. Ich hätte nicht mit so vielen Fragen gerechnet, das fand ich gut.“ Mit den Schülern hätten sie darüber gesprochen, was Essstörungen begünstigt und einen Überblick zu Schutzfaktoren gegeben.
Wichtig sei ein gesunder Selbstwert, der nicht auf einer Säule wie Aussehen oder Leistung beruhe. Auch eine gute Esskultur zuhause ohne Zwang und Kontrolle helfe. Hilfreich und wichtig seien außerdem eine gute soziale Integration zuhause und im Freundeskreis, das Vertrauen, um sich zu öffnen, ein gesunder Umgang mit und die Abgrenzung zu den sozialen Medien und eine gute Konfliktlösefähigkeit. Mit ihrem Angebot könnten sie die Jugendlichen sensibilisieren und Wege aufzeigen.
Bürgerstiftung unterstützt das Präventionsangebot
Wolfgang Kammerlander und Willi Zöller von der Bürgerstiftung sagten zu ihrem Engagement beim neuen Präventionsangebot, sie wollten nicht nur Impulse geben oder einzelne Projekte fördern. Kammerlander betonte: „Wenn jemand bereit ist, zu investieren, dann schieben wir auch an und fördern mehrjährig. Wir können nicht den Regelbetrieb finanzieren, aber Schwerpunkte schaffen, die irgendwann zum Regelbetrieb werden.“
Die Bürgerstiftung speise sich aus der Anlage des Stiftervermögens und Spenden. „Wir sind stolz, so etwas fördern zu können. Die Öffentlichkeit muss und soll erfahren, was wir unterstützen“, erklärte Willi Zöller.