Langer, langer Beifall und eine Stadthalle mit 1200 Besuchern, die sich von ihren Stühlen erhoben, um applaudierend das Lebenswerk eines Singeners zu würdigen, der gerade eben zum neuen Ehrenbürger der Stadt ernannt worden war: Wilhelm „Willi“ Waibel und die Zuschauer erlebten einen außergewöhnlichen Neujahrsempfang. Wir hatten aktuell berichtet.
Waibel fesselte die Zuhörer mit einer sehr nahe gehenden, sehr persönlichen und starken Ansprache, in der er sich für die Würdigung bedankte, die bislang erst elf andere Singener erhalten hatten. Er selbst stellte sich dabei ganz nach hinten und sein Herzensanliegen ganz nach vorne in den Blickpunkt: die Völkerverständigung nach dem Zweiten Weltkrieg, der so viel Schrecken über Europa im Allgemeinen und viele Menschen in Singen im Besonderen gebracht hatte. Da dürfe „kein Gras darüber wachsen“.
Willi Waibel hatte sich mehr als 40 Jahre lang um die Aufarbeitung der Geschichte der Zwangsarbeiter der hiesigen Großindustrie bemüht. Anfangs seien „die Türen alle zu“ gewesen. Man habe ihn abgeblockt, den einfachen „Südstädtler ohne Abitur“. Unterlagen seien verweigert worden. Die Zeit 1933 bis 1945 sollten in einigen Archiven „offenbar nicht mehr gefunden werden“, erklärte Waibel den Zuhörern in der Stadthalle, die mucksmäuschenstill seinen Ausführungen folgten.
„Bruderhof-Rebell“ und „Ortsvorsteher vom Bruderhof“ sei er einst in den 80er-Jahren genannt worden, weil er eine Bürgerinitiative im Neubaugebiet Bruderhof gegründet hatte, „um gegen Unrecht und Willkür anzugehen“ wegen eines Bebauungsplanes. „Gefälschte Bebauungspläne hatten damals dazu geführt, dass wir einen Prozess vor dem Verwaltungsgerichtshof führen mussten, leider! Dieser Vorgang hat mich geprägt und kritisch gemacht“, erklärte Waibel.
Mehrfach wurde er sehr emotional, schilderte Erlebnisse, die ihm nahe, die ihm sehr an die Nieren gingen. Etwa, dass die deutsche Wehrmacht offenbar im Namen Gottes Richtung Osteuropa einmarschierte, mit dem Spruch „Gott mit uns“ auf dem Koppelschloss der Soldaten. „Man muss die Zeit des Hitler-Regimes mitgemacht haben, um zu erkennen, wie teuflisch die Einflussnahme dieser schrecklichen Diktatur auf die Menschen – vor allem auf die Jugend – war. Wie stark dieser Einfluss auch hier in Singen war, sieht man auch daran, dass Adolf Hitler an Weihnachten 1933 zum Ehrenbürger der Stadt Singen ernannt wurde“, schilderte Waibel. Und ergänzte dann, dass Hitler diese Ehrenbürgerschaft 1945 wieder aberkannt wurde.
„Ich denke, dass man aus Fehlern der Vergangenheit nur lernen kann, wenn man diese Fehler offen und ehrlich darstellt, sie beurteilt und die Ursachen nicht bei anderen sucht. Mit Vertuschen kann man solche Phasen im Leben nicht mehr korrigieren“, sagte er.
Die Themen Theresien-Kapelle, Zwangsarbeiter in Singen und der Partnerstadt Kobeljaki hätten ihn gut ausgelastet, räumte Waibel ein. Doch habe er sich einzelnen speziellen Themen rund um Kriegsgräuel aus eigenem persönlichem Antrieb weiter genähert, weiter gebohrt, weiter recherchiert. Etwa, als er nachfragte, wie es einem Piloten der amerikanischen Air Force ging, nachdem dieser einen Bombenangriff auf Singen an Weihnachten 1944 geflogen hatte. Waibel hatte diesen Angriff als Kind miterlebt.
Die beiden Themen „Städtepartnerschaft Singen und Kobeljaki“ und „Gefangenen-Kapelle St. Theresia“ würden jetzt nach seiner Meinung „vorbildlich fortgesetzt, so dass ich guten Mutes meine Akten zu diesen Themen in Ruhe schließen kann!“
Der neue Ehrenbürger warnte abschließend davor, dass „egoistischer Nationalismus wieder Boden gewinne“. Er sprach den Vorfall an, dass rund 30 Rechte jüngst mit Fackeln und Fahnen durch Singen zogen und rechte Parolen von sich gegeben hatten. Da würden „Menschen auf falsche Wege getrieben, die unsere Generation schon einmal erlebt hat, Menschen werden verführt, wie es immer wieder in der Vergangenheit passiert ist – unter Hitler, in der DDR und in der Stalinzeit in der UdSSR.“
Zu Person und Ehrung
Wilhelm „Willi“ Josef Waibel ist ein waschechter Singener, in der Südstadt aufgewachsen und heute 81 Jahre alt. Mit seiner Gattin Hildegard feierte er im Jahr 2010 Goldene Hochzeit. Krankheitsbedingt konnte sie die Ehrung ihres Gatten in der Stadthalle nicht persönlich miterleben. Waibels haben zwei Kinder. Der neue Ehrenbürger war lange Jahre bei der GF in der EDV tätig und zuletzt beim Takeda-Vorgänger, der Pharma-Firma Byk Gulden.
Elf Singener Ehrenbürger gab es vor Waibel bereits. Der zuletzt ernannte war Dietrich H. Boesken. (jöb)
Die ganze Rede von Willi Waibel gibt es exklusiv für SK Plus-Mitglieder hier.