Zur Verleihung Ehrenbürgerrecht der Stadt Singen am 22. Januar 2016 in der Stadthalle: Die Rede von Singens neuem Ehrenbürger Wilhelm Waibel im Wortlaut:

"Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren der Stadtverwaltung, sehr geehrte Damen und Herren des Gemeinderates, verehrte Gäste, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Ich will - aus gegebenem Anlass einfach vorausschicken, dass ich in meinem doch schon hohen Alter - eigentlich nur noch zwei Ziele vor Augen habe: 1. die Gesundheit meiner Familie, meiner Nachbarn, meiner Mitbürger und 2. die Erhaltung des Friedens. Größere Erwartungen gibt es für mich - offen gesagt - nicht mehr!

Als ich von der hohen Ehrung, nämlich der Ernennung zum Ehrenbürger, erfahren habe, konnte ich es anfangs gar nicht glauben: Man stellt sich Fragen, womit man dies verdient hat, ob man in die Reihe der bisherigen Ehrenbürger auch nur annähernd passt, es plagt einen dann auch der Gedanke, ob es andere Bürger dieser Stadt eher verdient hätten, zum Beispiel Menschen, die durch stille, unauffällige Tätigkeit im sozialen Bereich, in der Betreuung behinderter, leidender und sterbender Mitmenschen wirklich unbezahlbare, großartige Leistung erbringen.

Da kommt aber auch der Gedanke hoch, dass man bei einer solchen Ehrung gerne auch so als "Musterknabe" dargestellt wird. Es gibt wohl im Leben eines Menschen aber auch Zeiten, wo vielleicht Eltern, Lehrer, Vorgesetzte nicht unbedingt das Bild vom Musterknaben hatten.
Vor allem gab es zu diesem Thema auch eine Zeit, in der ich ja auch nicht gerade als "Musterbürger" im Singener Rathaus gesehen wurde:

"Bruderhof-Rebell" und "Ortsvorsteher vom Bruderhof" wurde ich damals - 1983 - tituliert, weil ich eine Bürgerinitiative im Neubaugebiet Bruderhof gegründet hatte, um gegen Unrecht und Willkür anzugehen im Zusammenhang mit der korrekten Einhaltung des Bebauungsplans Bruderhof. Gefälschte Bebauungspläne hatten damals dazu geführt, dass wir einen Prozess vor dem Verwaltungsgerichtshof führen mussten leider!

Dieser Vorgang hat mich geprägt und kritisch gemacht, obwohl ich früher schon dazu neigte, fragwürdigen und kritischen Dingen mit Penetranz auf den Grund zu gehen, oft auch zum Leidwesen meiner Familie, denn die Recherchen waren ja doch sehr zeitaufwendig und auch nicht immer angenehm. Vor allem als ich vor fast 40 Jahren anfing, das Thema Zwangsarbeiter in den Singener Industriebetrieben offenzulegen, da spürte ich deutlich, dass abgeblockt wurde, aber umso intensiver wurde dann mein Suchen nach der Wahrheit, aber da waren vor Jahrzehnten auch entsprechende Türen oft noch verschlossen.

Als "Graswurzel-Historiker" ohne Abitur und ohne Studium - und dabei auch noch "nur" aus der Südstadt stammend - musste ich oft, und dies auch bei Fachkreisen, bei Verwaltungen, mühsam die Türen zur Vergangenheit öffnen.
Ich denke da zum Beispiel an Archive von Singener Großbetrieben, die ursprünglich aussagten, dass keine Unterlagen mehr vorhanden seien, und leider gibt es bis in die heutige Zeit aus dem besagten Kreis noch Institutionen, bei welchen die Zeit von 1933 bis 1945 offensichtlich nicht stattgefunden hat. Oder wenn ich an die jahrelange Suche nach Dokumenten über die öffentliche Erhängung eines 25-jährigen Polen in einem nahegelegenen Dorf denke, der 1942 sterben musste, weil er sich in die Tochter seines Arbeitgebers verliebt hatte. Das Thema ist heute dort noch tabu, obwohl selbst das Protokoll der Erhängung mit den Unterschriften mancher bekannter Persönlichkeiten in meinem Archiv liegt!

Ich denke aber, dass man aus Fehlern der Vergangenheit nur lernen kann, wenn man diese Fehler offen und ehrlich darstellt, sie beurteilt und die Ursachen nicht bei anderen sucht. Mit Vertuschen kann man solche Phasen im Leben nicht mehr korrigieren, allerdings habe ich daraus auch gelernt, beim Verdacht auf Vertuschung durch die von mir Befragten erst recht intensiv zu recherchieren. Ich habe aber auch gelernt, anderen keine Vorwürfe zu machen, wenn keine Verbrechen begangen wurden und wenn diese die erlebte Situation offenlegten.

Man muss die Zeit des Hitler-Regimes mitgemacht haben, um zu erkennen, wie teuflisch die Einflussnahme dieser schrecklichen Diktatur auf die Menschen - vor allem auf die Jugend - war.
Wie stark dieser Einfluss auch hier in Singen war, sieht man auch daran, dass Adolf Hitler an Weihnachten 1933 zum Ehrenbürger der Stadt Singen ernannt wurde; ich ergänze gerne, dass Hitler diese Ehrenbürgerschaft dann 1945 wieder aberkannt wurde.

Die Themen "Theresien-Kapelle, Zwangsarbeiter in Singen und Partnerstadt Kobeljaki" haben mich zwar - wie Sie sich sicher vorstellen können - gut ausgelastet, aber da kam bei mir auch noch das Drängen hoch nach zusätzlichen Recherchen: Aufgrund des als Kind hautnah miterlebten Bombenangriffes auf Singen an Weihnachten 1944 wollte ich wissen, wie Piloten der amerikanischen Air Force, die den Angriff geflogen hatten, heute darüber noch schreiben können; einen solchen Briefwechsel konnte ich tatsächlich noch längere Zeit mit einem direkt Beteiligten pflegen.

Es war auch der Kontakt mit Menschen, die ihre Angehörigen im Krieg im Raum Kobeljaki verloren hatten und denen ich Informationen zur Grablage geben konnte. Daraus resultierende Exhumierungen durch den Kriegsgräberbund konnten den suchenden Angehörigen dann eben leider nur noch die Erkennungsmarke des Toten als traurige Tatsache erbringen.

Da war aber auch ein nachträglicher Kontakt mit Menschen aus der Schweiz, die uns am letzten Kriegstag Asyl im Schüppelwald bei Ramsen gegeben hatten: Flucht vor der SS und Angst vor der Verteidigung Singens waren der Grund für die Flucht, für die Asylsuche, wenn auch in allerkleinster Form.
Dieses Ereignis hat aber bei mir das Gefühl für Flüchtlinge und Asylsuchende nachhaltig geprägt, so wie auch viele Gespräche und Medieninformationen zur damaligen Flucht unserer Mitbürger aus den deutschen Ostgebieten und ihre Vertreibung durch die Rote Armee.

Ich will an dieser Stelle allen danken, die mich bei meiner Arbeit, ja bei meiner Leidenschaft für die Erhaltung der Kapelle, bei der Suche nach den Zwangsarbeitern und beim Aufbau der Beziehung zur Partnerstadt und bei über einem Dutzend Reisen dorthin, vor allem aber auch durch finanzielle und moralische Unterstützung dieser Projekte begleitet haben; hier muss und will ich vor allem auch den regionalen und überregionalen Presse-, Rundfunk- und Fernseh-Redakteuren ein herzliches Dankeschön aussprechen.

Danken will ich an dieser Stelle auch allen Oberbürgermeistern unserer Stadt, die an diesen Projekten mitgeholfen haben. Die beiden Themen "Städtepartnerschaft Singen und Kobeljaki" und "Gefangenen-Kapelle St. Theresia" werden jetzt nach meiner Meinung vorbildlich fortgesetzt, so dass ich guten Mutes meine Akten zu diesen Themen in Ruhe schließen kann!

Bewusst habe ich bei allem Lob für Helfer und Unterstützer Namens-Nennungen weggelassen, weil ich sonst ganz bestimmt verdiente Menschen vergessen würde zu nennen.
Das Namenlose bitte ich zu entschuldigen.

Ich will ich aber hier noch ergänzen, dass manche Ereignisse bei meinen ersten Begegnungen in Kobeljaki meine Weltanschauung aufgerührt haben: Beim ersten Treffen mit ehemaligen Soldaten und Offizieren der Roten Armee hat einer der Offiziere mich gefragt, ob ich - wenn ich an Gott glaube - auch wisse, was auf dem Koppelschloss der Wehrmacht stand, als sie die Sowjetunion überfallen hätten: "Gott mit uns" hieß der Text, und zu diesem Punkt habe ich bis heute zu kauen, schon was den Überfall auf Osteuropa anbelangt.

Wenn ich dann noch vor Augen habe, dass auch Völker in Westeuropa mit dem Zeichen "Gott mit uns" überfallen wurden, dann muss ich noch mehr zweifeln, denn dies waren Völker, die überwiegend sogar die gleiche Religionszugehörigkeit hatten: Da wurde an der Front auf beiden Seiten in unmittelbarer Nähe des jeweiligen Feindes zum Beispiel Weihnachten gefeiert, Militär-Seelsorger auf beiden Seiten predigten die gleichen Texte, aber "Du sollst nicht töten" und "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" waren offensichtlich zur Farce geworden: Wenn man mit dem Titel "Gott mit uns" - oder heute auch "Im Namen Allahs" - Verbrechen begeht, dann verrät man seinen eigenen Glauben.

Es ist klar, dass der einzelne Soldat daran keine Schuld trägt! Ich bitte um Entschuldigung für meine Offenheit, mit der ich auf keinen Fall friedliebende Christen oder Muslime verletzen will, aber ich kann auch bei einer solchen Ehrung nicht verschweigen, wie mich dieses Koppelschloss-Thema zum Denken angeregt hat.


Wenn ich an dieser Stelle noch einmal kurz auf das Thema "Flucht und Asyl" zurückkehren darf, dann ist es das derzeit bei uns kontrovers diskutierte Thema Flüchtlinge und Asylsuche. Ich fühle mich keiner Partei verpflichtet, erkenne aber den Missbrauch, der von Gruppen verantwortungsloser Migranten und Flüchtlinge bei uns zurzeit getrieben wird, dennoch hoffe ich auch auf eine gerechte und menschliche Lösung des Problems vor allem für die vielen Familien, die aus den Bürgerkriegsländern zum Teil in Schlauchbooten mit ihren Kindern übers Meer Zuflucht gesucht haben und um Asyl bitten.

Stärker ängstigt mich allerdings der nationalistische Gegenstrom, wie er inzwischen in manchen Zeitungen und im Internet unters Volk gebracht wird. Auch in Wahlkampf-Pamphleten werden Parolen verbreitet, die zum Teil tatsächlich erinnern an Texte, die ein - bereits erwähnter - ehemaliger Ehrenbürger von Singen 1923 geschrieben haben könnte: Da fehlen nur noch so Worte wie "Blut und Ehre" und "rein arisch". Wenn dieser egoistische Nationalismus wieder Boden gewinnt, wenn junge Chaoten mit der Reichskriegsflagge wieder durch die Städte ziehen, dann werden Menschen auf falsche Wege getrieben, die unsere Generation schon einmal erlebt hat, Menschen werden verführt, wie es immer wieder in der Vergangenheit passiert ist, - unter Hitler, in der DDR und in der Stalinzeit in der UDSSR.


Ich will Ihnen zu diesem Thema als Abschluss noch einen kurzen Brief vorlesen, den mir mein ukrainischer Freund Wladimir Ogitschuk im September 1991 über unsere erste Begegnung auf ukrainischer Erde geschrieben hat:

"Wir danken Euch für die unvergesslichen Minuten unserer Treffen auf kobeljakischer Erde. Schon fast drei Monate sind vergangen, seit Ihr abgefahren seid. Meine Familie und ich denken mit Aufregung und Herzklopfen an die gefährlichen Minuten unserer Begegnung. Für mich war das der Anfang eines neuen Lebens! Meine ganze Weltanschauung hat sich, das weißt Du ja, in was für einer Periode herausgebildet! Für uns wart Ihr "blutsaugende Kapitalisten"!

Aber als ich bei unserer ersten Begegnung auf Euch "verfaulende Kapitalisten" schaute, da wurde mir bitter und weh für mein Volk, für mein Vaterland. Die Überlegenheit der kommunistischen Partei bestätigte sich nicht; die einfachen Kommunisten sind daran nicht schuld. Als wir im September 1990 bei Euch in Singen waren, da hatte ich noch zwei Posten inne: Ich war 1. Sekretär der kommunistischen Partei des Kreises Kobeljaki und auch Vorsitzender des Bezirkssowjets; ich gab freiwillig den Posten beim Bezirkssowjet auf. Ich hatte fest geglaubt, meine Partei sei Vorkämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit, glaub es mir, und ich tat viel dafür. Aber es zeigte sich, dass wir nur Marionetten waren und ausgenutzt wurden von den Parteibossen. Sie nahmen die kommunistische Partei als Deckmantel und lebten aber außerhalb des Kommunismus. Unsere Freundschaft, lieber Willi, soll zu einem großen Baum werden, unter dem unsere Nachkommen leben sollen. Das wünsche ich mir sehr!"

Ich bedanke mich jetzt noch einmal bei Ihnen, Herr Oberbürgermeister Häussler, beim Gemeinderat und bei den an der Vorbereitung beteiligten Personen für diese Ehrung, und ich danke Ihnen, dem Publikum, für Ihre Geduld beim Zuhören."