Im Flur brüllt sich die kleine Lisa bereits seit gut einer Viertelstunde die Seele aus dem Leib. Isabelle Frei, Leiterin der Einrichtung des Christlichen Jugenddorfwerks Deutschland (CJD) der Standorte Radolfzell und Steißlingen, unterbricht das Gespräch erst einmal nicht. „Das macht sie immer. Entweder sie möchte die Jacke oder die Schuhe nicht alleine anziehen“, erklärt sie mit einem sanften Lächeln. Lisa ist eines der insgesamt sechs Kinder, die beim CJD Radolfzell untergebracht sind und dort wie in einer normalen Familie leben, weil sie in ihrer eigenen nicht mehr bleiben können.
Die Kinder sind zwischen vier und zehn Jahre alt, haben in der Regel einen ziemlichen Leidensweg hinter sich und sind dementsprechend traumatisiert. Sie benötigen mehr als nur Aufmerksamkeit und Pflege, sondern meistens auch therapeutische Behandlung. Nach weiteren Minuten Gebrüll schaut Isabelle Frei nun doch nach Lisa. Es sind nicht Jacke oder Schuhe, sondern die Matschhose, die das vierjährige Mädchen zwar alleine anziehen kann, aber nicht alleine anziehen möchte. Doch nach einem kurzen Gespräch mit Isabelle Frei scheint Lisa beruhigt und geht hinaus zum Spielen.
Ziel ist ein normales Leben
Szenen wie diese kommen in jeder Familie vor und wie in einer normalen Familie möchte Isabelle Frei auch den Alltag und das Leben für die Kinder gestalten. „Unsere Einrichtung befindet sich in einer ganz normalen Wohnung, die Kinder gehen in den örtlichen Kindergarten oder die Schule. Eine normale Teilhabe am Leben soll möglich sein“, beschreibt Frei das Konzept.
Das Christliche Jugenddorfwerk Deutschland feiert in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen. Das CJD ist ein bundesweit tätiges Jugend-, Bildungs- und Sozialwerk, das jungen und erwachsenen Menschen Ausbildung, Förderung und Unterstützung in ihren aktuellen Lebenssituationen anbietet, informiert der Dachverband auf der Homepage. Bundesweit gibt es 150 Standorte, seit 2017 gibt es das CJD auch in Radolfzell, seit 2020 in Steißlingen. Gegründet hat Isabelle Frei die beiden Einrichtungen. Geleitet wird die Wohngruppe in Radolfzell von Denise De Monte und in Steißlingen von Kerstin Keller.
Sie habe zuvor rund 25 Jahre in der Kinder- und Jugendhilfe gearbeitet und wollte sich anschließend selbstständig machen. Da es vor allem an Plätzen für besonders kleine Kinder zwischen null und drei Jahren fehlt, entschied sie sich, einen solchen Ort in Radolfzell zu schaffen. „Je jünger das Kind ist, umso aufwändiger die Betreuung“, erklärt sie. Der Bedarf an Plätzen für Säuglinge und Kleinkinder sei schon immer sehr hoch gewesen und im Landkreis Konstanz gebe es nur wenig Angebote. Seit Beginn der Pandemie sei die Nachfrage sogar noch etwas gestiegen. Die Anfragen für eine Aufnahme kämen aus ganz Deutschland, so Isabelle Frei. Um aber jedem Kind gerecht zu werden, würde man die Gruppe bewusst klein halten.
Rund um die Uhr im Einsatz
Ihre rund 20 Mitarbeiter – darunter befinden sich Hauswirtschafterinnen, Heilpädagogen, Jugend- und Heilerzieherinnen, ein Hausmeister sowie ein psychologischer Fachdienst – sind rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche, auch an Feiertagen und in den Ferien für die Kinder in beiden Wohngruppen in Radolfzell und Steißlingen im Einsatz. Die notwendige Distanz zu wahren sei nicht immer einfach, erklärt die Angebotsleiterin. Schließlich seien es kleine Kinder, mit denen die Angestellten zum Teil sehr lange engen Kontakt haben.
„Das oberste Ziel ist immer die Rückführung in die Familie“, erklärt Isabelle Frei. Doch dies sei oft nicht möglich, bei rund der Hälfte aller Kinder sei von Anfang an klar, dass es ein Zurück zu den leiblichen Eltern nicht geben werde. Die Gründe dafür seien vielfältig, oft seien es Missbrauch, Vernachlässigung oder Suchterkrankungen der Eltern. Bis die Kinder aus ihren Familien genommen werden, habe das Jugendamt oft über Jahre versucht, die Situation ambulant zu verbessern. Das Entziehen der Kinder aus der Ursprungsfamilie sei immer die letzte Option.
Doch dann gebe es auch diese Erfolgserlebnisse, wenn Kinder auch nach mehreren Jahren in der Einrichtung zurück zu ihren Eltern gehen und das Familienleben dann auch klappt. „Wie lange Kinder bei uns bleiben, ist höchst unterschiedlich“, erklärt Isabelle Frei. Manche blieben nur ein Jahr, manche drei Jahre. Da sich die CJD-Einrichtung in Radolfzell auf die Aufnahme und Betreuung besonders kleiner Kinder spezialisiert hat, sei es nicht unüblich, dass ältere Kinder die Jugendhilfe-Einrichtung wechseln, sobald sie ins Teenageralter kommen.
Stolz auf das Team
Die Leiterin der Einrichtung ist besonders stolz auf ihr Team und den Umgang mit der Pandemie. „Wir haben den Fernunterricht hier wirklich gut hinbekommen, die Laptops wurden uns gespendet“, sagt sie. Auch gebe es wenig Wechsel innerhalb des Teams, was auch für die Kinder positiv sei. Bezugspersonen blieben so dauerhaft im Leben der Kinder. Sie selbst versuche, für ihre Mitarbeiter ansprechbar zu sein und sie in schwierigen Situationen zu unterstützen. Der Umgang mit den traumatisierten und verhaltensauffälligen Kindern sei alles andere als einfach, da bräuchten auch erfahrene Fachkräfte Hilfe.
Das Christliche Jugenddorfwerk Deutschland möchte seinen 75. Geburtstag in allen Einrichtungen individuell feiern. Auch in den Wohngruppen von Isabelle Frei haben die Planungen bereits angefangen. Sie möchten mit allen Unterstützern und Freunden ein Fest in der Einrichtung feiern. Beim Verlassen der Räume des CJD gibt es noch einmal ein Zusammentreffen mit Lisa, die mittlerweile fröhlich auf einem Bagger sitzt und durch die Einfahrt fährt. Der kleine Wutanfall von vorhin scheint vergessen.