Herr Paulus, Sie halten häufig Vorträge unter markigen Titeln. So wie jetzt auch in Konstanz, unter dem Titel „Wir sind der Puff Europas“. Was genau meinen Sie damit?

Im Vergleich zu unseren Nachbarländern oder zu anderen europäischen Ländern haben wir eine übergroße Prostitutionslandschaft. Wir haben die letzten Jahre, Jahrzehnte viele, viele Frauen hier ins Land geholt, aber auch viele, viele Täter in diesen Bereichen. Das ist inzwischen extrem unüberschaubar geworden. Ein Beispiel: Wir wissen in Deutschland, wie viele Masthühner wir haben und wie viele Legehenne, aber wie viele Prostituierte wir hier haben, weiß niemand.

Krimininalhauptkommissar Manfred Paulus
Krimininalhauptkommissar Manfred Paulus

Warum ist der Markt so groß in Deutschland?

Wir bieten Anreize. Wir haben höchst liberale Gesetze in diesem Bereich bisher gehabt. Das alte Prostitutionsgesetz hat meiner Meinung nach sehr wesentlich dazu beigetragen. Wir sind wahrscheinlich, um ein Beispiel zu nennen, der einzige Staat auf dieser Welt, der jemals auf die Idee kam, Zuhältern im Gesetz auch noch ein Weisungsrecht einzuräumen, wie damals getan.

Was konkret bedeutete das?

Nun, Zuhälter konnten über die Frauen bestimmen, ihnen beispielsweise vorschreiben, ob sie nackt im Puff rumlaufen oder nicht. Wenn Sie das mit Frankreich heute vergleichen, da ist alles viel restriktiver und die haben längst nicht diese Märkte wie wir hier.

Lassen Sie uns das ganze Thema mal konkreter machen: Wie viele Prostituierte gibt es überhaupt in Deutschland?

Am meisten wird die Zahl 400 000 zitiert. Aber das ist eine Zahl, die kommt schon aus den 1980er-Jahren, das war vor der Wende, und da hatten wir noch ganz andere Verhältnisse als heute.

Woher kommen diese Frauen?

Wir müssen davon ausgehen, 80 Prozent heute sind Osteuropäerinnen oder Frauen aus Südosteuropa oder auch aus anderen Regionen dieser Welt. Ich kenne die Schleusungs-, die Anwerbungsmethoden. Ich erkenne eigentlich im Wesentlichen nur kriminelle Strukturen, die da von Osteuropa vor allem hierher führen und entdecke kaum mal legale Strukturen. Und deshalb stimmt mich das höchst bedenklich.

Unter welchen Umständen werden die Frauen hierher gelockt.

Das ist schwierig, da muss man auch differenzieren. Grundsätzlich sind es im Wesentlichen drei Phasen, die Abläufe dieses Frauen- und Kinderhandels. Ich will da die Kinder nie mehr vergessen, die spielen momentan eine größere Rolle. Also: Es gibt eine Anwerbungsphase, eine Schleusungsphase und hier dann die Ausbeutung. Das sind die drei Elemente im Wesentlichen. Wobei, wenn ich auf die Roma blicke aus Rumänien, aus Bulgarien oder woher sie auch kommen mögen, sind die Strukturen völlig anders. Die werden nicht gefragt, da wird nicht angeworben, sondern die werden rekrutiert in einem Ghetto und dann geht es ab nach Deutschland. Oder auch in Albanien, die albanischen Clans, der Frauenhandel ist völlig anders. Die Frau ist Besitz des Mannes in Albanien und deshalb haben die Frauen einfach das zu tun, was ihnen vorgegeben wird. Die Schleusungsphase ist insgesamt sehr bedeutend. Da wird eben Hilflosigkeit erzeugt, Abhängigkeit. Da wird bewusst kriminalisiert, da wird die Schuldenfalle erstellt, das Fälschen des Passes, das hat viel, viel Geld gekostet, der Transport. Und dann sagen die Schleuser: ‚Das kann man jetzt natürlich nicht mehr mit dem versprochenen Job als Tänzerin auf westlichen Bühnen oder als Putzfrau verdienen, aber zum Glück haben wir ja eine Alternative.’ Das ist immer das gleiche Spiel. Wir wissen eigentlich sehr viel über die Abläufe. Nur eines wissen wir nicht, wie wir dem mal wirksamer begegnen.

Mit welche Erwartungen kommen die Frauen hierher?

Sie sind getäuscht. Diese Frauen kommen nicht in das Deutschland, das Sie kennen, das ich kenne. Die landen hier in diesen Subkulturen, im Rotlichtmilieu, in Parallelgesellschaften mit völlig eigenen Gesetzen, mit eigenen Richtern und wenn es sein muss, sage ich immer, auch mit eigenen Henkern. Die Frauen sind Gefangene eines Milieus, das sie gnadenlos ausbeutet. Da gibt es zum Beispiel Bordelle, da dürfen sie nur im Haus Mittagessen oder sich die Hähnchen oder Pizza mit dem Taxi kommen lassen. Warum denn? Nur dass keine sozialen Kontakte nach außen hin entstehen, denn die könnten ja gefährlich werden. Und statt dass wir solche sozialen Kontakte vermehrt schaffen, um solche Notfälle auch dann irgendwann mal zu erkennen, bauen wir die mehr und mehr ab. Als sie alle vier Wochen noch zum Arzt mussten, bis 2001, das Gesetz hat man abgeschafft. Das waren solche Brücken in die Allgemeinheit hin. Ich erinnere mich, manchmal ist der Amtsarzt zu mir gekommen und hat gesagt, Paulus, ich glaube, da ist jemand in Not. Und diese Brücken gibt es eben nicht mehr. Zuhälter achten darauf, Bordellbetreiber. Die gibt es immer weniger.

Wer beherrscht die Szene?

Unterschiedlich. Wir haben ja nicht ein Rotlichtmilieu, wir haben viele Rotlichtmilieus in Deutschland. Wenn Sie nach Berlin blicken, da sind große Teile Libanesen, also Araber, die Rotlichtbereiche beherrschen. Wir haben große Dominanz in vielen Bereichen durch Albaner, man spricht von der albanischen Mafia, albanische Clans, die eben Frauen und Kinder hierher bringen und ausbeuten. Dann gibt es die Russenmafia, es gibt ukrainische Banden hier, es gibt rumänische Banden, es gibt Rockergruppierungen. Wir bieten kaum Widerstände und deshalb fassen die mehr und mehr Fuß hier. Da sind auch permanent Machtkämpfe im Gange. Die Machtkämpfe sind ein auf Dauer angelegter Prozess und meistens schwimmt der mit dem größten Einschüchterungspotenzial, mit der größten Gewaltbereitschaft, oben.

Wie sieht es im Süden unseres Landes aus, also gerade in Baden-Württemberg und Bayern?

Das ist in Ulm anders als in München, das ist in Kempten wieder anders. Ich bin aber nicht mehr im Dienst, ich bin glücklicher Pensionär, und deshalb kann ich die aktuelle Situation hier von Ulm oder München nicht beurteilen.

Das ist ein großer Markt, Sie haben gesagt, das ist ein Riesenumsatz, der gemacht wird. Kann man das irgendwie einschätzen, wie viel?

Ich mag Zahlen nicht in diesem Bereich. Wir haben so gigantische Dunkelfelder, da sollten wir sehr, sehr vorsichtig sein. Wir haben bundesweit im Jahr zwischen 500 und 600 Ermittlungsverfahren in Deutschland wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Wir haben Hunderttausende Frauen hier, die als Prostituierte arbeiten. Da können Sie sich vorstellen, wie hoch die Dunkelziffer ist. natürlich alle freiwillig Ich will damit sagen, wir wissen doch nichts und können deshalb auch keine Zahlen liefern.

Was müsste man dagegen tun?

Der Ansatz wäre mal ein vernünftiges Prostitutionsgesetz. Aber wir haben bis heute die Situation, dass jede Kebab-Bude eine Konzession braucht. Ein mit 70 Vorstrafen und Verbrechen versehener Deutscher, Türke oder Italiener oder was immer kann morgen den größten Puff aufmachen hier. Da graben die Kommunen verzweifelt im Baurecht und in der Gewerbeordnung, ob man nicht etwas findet, um dem das zu verbieten. Die finden aber nichts.

Das heißt, die jetzt vorgelegte Reform des Gesetzes ist aus Ihrer Sicht überhaupt nicht ausreichend?

Das reicht nicht aus und geht zum Teil in die falsche Richtung. Zur jetzt so gefeierten Kondompflicht kann ich nur sagen: mit Kondompflicht kann man organisierte Kriminalität nicht bekämpfen. Ich war zum Beispiel ein Verfechter davon Prostitution unter 21 Jahren zu verbieten. Das ist ganz einfach, dann haben wir vom Menschenhandel 60 Prozent vom Tisch, weil bevorzugt die Jungen, Unbedarften hier her gelockt werden.

Um nochmals kurz auf die Situation der Frauen zu kommen. Wenn sie dann hier in Deutschland sind, unter welchen Bedingungen leben die?

Fast immer in der Schleusungsphase wird schon eine Hilflosigkeit, eine Abhängigkeit erzeugt. Und wenn Sie sich vorstellen, Sie haben da mit den Hells Angels, einem albanischen Verbrecherclan oder so was zu tun, dann können Sie sich vorstellen, wie die leben. Die unterliegen natürlich Zwängen. Die werden alle sagen, ich mache das freiwillig, mir geht es gut, es ist schön hier. Das kennt man. Da habe ich nie etwas anderes gehört. Aber in Wirklichkeit sieht es ganz, ganz anders aus.

Was halten Sie von den Frauen, die sagen, dass sie den Beruf freiwillig gewählt haben?

Für mich sind das vor allem Marionetten. Tatsächlich sind 98 Prozent der Prostituierten fremdbestimmt. Die angebliche Freiwilligkeit, die wir da immer bemühen, stößt sehr schnell an Grenzen. Und dann sind da so ein paar Dominas hier, die arbeiten selbstständig, und die maßen sich an, hier alle anderen Frauen zu vertreten. Leider hört man darauf. Offensichtlich bis ins Familienministerium hinein.